Abhängigkeiten und ein anderer Blickwinkel

Ich tue mich schwer mit Abhängigkeiten. Der Missbrauch ist inklusive und keiner von uns so heilig, dass er ihn nie begehen würde. Ein schwacher Moment, Stress, Müdigkeit oder Ungeduld und die Macht wird genutzt, im Zweifelsfall gewinnt der Stärkere. So ist das Leben, so funktioniert der Mensch eben.
Nun bemühen sich viele täglich ihre Position nicht zu missbrauchen und gerade als Vorgesetzte oder eben als Betreuungs- und Bezugspersonen von Menschen mit einer Beeinträchtigung wertschätzend, das Eigene in ihren Schutzbefohlenen fördernd und Ressourcen orientiert zu wirken. Dafür bin ich als Mutter einer Tochter mit Down Syndrom sehr dankbar, denn ich bin dabei selber schon an meine Grenzen gestossen.

Ihre Bezugsperson in der Institution in der sie lebt, bespricht mit ihr ihren Einsatz in der Werkstatt, den sie ab nächsten Montag zu leisten hat. Sie erklärt es ihr so lange, fragt, antwortet, fragt zurück, bis Annina es wiederholen kann, verstanden hat. Sie nimmt sich diese Zeit mit meiner Tochter, auch um sie zum hundertsten Mal zu erinnern, dass sie duschen muss, dass die Haare gewaschen werden müssen, dass die Wäsche gewechselt werden sollte usw., usw. Sie ist geduldig. Das ist ihr Job. Sie mag Annina, macht sich Gedanken, setzt sich für sie ein, spricht mit mir über die Schwierigkeiten, die Annina hat und macht, sie ist betroffen und das ist persönlich.

Ich bin froh, dass meine Tochter so gut begleitet wird, dass sie auf einer Wohngruppe leben kann, zusammen mit jungen Leuten. Würde sie zuhause wohnen, bei mir und Fuchs und Hase, käme sie privat nur selten in Kontakt zu jungen Leuten. Man müsste es organisieren, ich müsste es organisieren. Zudem bin ich nicht immer so geduldig. Manchmal habe ich die Nase voll, fahre aus der Haut, bin genervt und schimpfe. Ich bin die Mutter. Ich nerve sie auch. Von mir will sie sich ja lösen, eigentlich, so ist der Lauf der Dinge.

Die andere Seite ist die, dass meine Tochter immer in Abhängigkeitsverhältnissen leben muss. Hat sie einen Mitbewohner auf der Wohngruppe, der sie nervt, kann sie nicht einfach ausziehen. Mag sie ihren Chef nicht, kann sie nicht einfach einen neuen Job suchen, sie kann sich höchsten verweigern, bocken, so zeigen, dass etwas nicht in Ordnung ist, sodass wiederum andere für sie schauen. Wenn sie je einen Freund hat mit dem sie zusammenleben möchte oder den sie sogar heiraten möchte, kann sie nur hoffen, dass sie Betreuungspersonal und Eltern hat, die solches gutheissen und ermöglichen.
Es ist genau diese Abhängigkeit, die mir schwer auf dem Magen liegt.

Nie, wird sich Annina ihre Rechte erkämpfen können.
Jeder normal begabte junge Erwachsene hat diese Möglichkeit und seien seine momentanen Werte in unseren Augen noch so abstrus. Er oder sie kann die Lehre schmeissen, ins Ausland verrreisen, auf der Strasse leben, die Haare grün färben, für eine bessere Welt demonstrieren oder Arzt bei Médecins sans frontières werden. Solange er die Verantwortung für sein Leben und Handeln übernimmt, ist jeder Mensch ab zwanzig unabhängig, kann sich lösen vom Elternhaus und sich sein eigenes Leben gestalten.

Es ist mir klar, dass familiäre Prägungen dabei sicher auch eine Rolle spielen und dass sich die Ablösung je nach dem auch für „Normalos“ schwierig gestalten kann. Bei meiner Tochter ist es anders. Ich kann sie nicht einfach Loslassen, sie ihrem eigenen Urteilsvermögen übergeben und in die Welt schicken.
Sie wird immer abhängig bleiben vom Urteilsvermögen anderer. Nicht jeder der „Anderen“ handelt immer nach bestem Wissen und Gewissen. Und selbst wenn….? Ist es immer zu Anninas bestem? Vielleicht! Aber hätte sie es so gewollt, auch wenn es nicht zu ihrem Besten, sondern eine schmerzliche, aber wertvolle Erfahrung wäre? Die Frage bleibt wohl unbeantwortet und gewisse Dinge unabänderlich.

Allerdings leuchtet bei mir gerade ein Lichtlein auf. Gerade jetzt nämlich, im Hora, macht Annina ja Erfahrungen, – aus eigenem Antrieb oder Verweigerung, wie auch immer man das nennen will – die Konsequenzen haben, die ihr vielleicht auch schmerzliche Erfahrungen bescheren, aber die sie sich so selber schafft, weil sie ja nicht auf uns Betreuer hört.
Ziemlich eigentständig, meine Tochter!

Alles ist eine Frage des Blickwinkels!