Es ist so eine Sache mit der Genetik. Sie hat mir in der Mittelschule die Biomaturnote versaut. Ich blicke einfach nicht ganz durch.
Dass meine Tochter eine Trisomie 21 hat und was das bedeutet ist mir natürlich einigermassen klar. Einfach erklärt steht Trisomie für eine Verdreifachung des 21. Chromosomes. Wir Normalos haben immer nur ein Paar. Das ist mal die eine Seite der Geschichte, klar beweisbar und auch für mich verständlich, im Detail nachzulesen bei Wikipedia. Allerdings finde ich die Details dann schon ziemlich anspruchsvoll.
Doch da gibt es ja auch immer wieder diese Sätze wie: „Das ist genetisch bedingt.“ Damit ist dann gemeint, dass man irgendwelche schlechten Charaktereigenschaften von Mutter, Grossmutter oder weiss der Teufel welchem Vorfahren geerbt haben soll. So will man sich menschliches Verhalten erklären, das man nicht verstehen kann. Solche Sätze kommen selten gut an. Heute früh, noch im Halbschlaf, habe ich mich gefragt inwieweit sich schlechte Eigenschaften überhaupt vererben lassen, ausser als erlerntes Verhalten.
Ein solch „genetischer“ Schuldspruch fühlt sich an wie ein unverrückbares Urteil, ein Bann, der nicht aufgehoben werden kann, weil alles in den Genen verankert ist.
Andererseits ist es auch eine gut vorzuschiebende Erklärung, Aenderungsbedarf vorweggenommen. Auch ich habe mir so schon einige, mir unangenehme oder schwer erklärbare Handlungseinheiten meiner Lieben erklärt, frei nach dem Motto: ‚So ist das halt in unserer Familie, rein genetisch‘. Der Protest darauf ist sicher, schnell und gewaltig.
Ein persönliches Beispiel: Der Vorwurf, ich sei wie meine Grossmutter, die von allen verhasste, ungeliebte, stets nörgelnde, einsame Frau, trifft und verletzt mich sehr. Ist diese Aussage körperlich gemeint, weist also wirklich auf genetische Uebereinstimmungen in Aussehen und Körperbau hin, kann ich sie gut hinnehmen und so habe ich eine Erklärung dafür, dass ich kleiner und fülliger bin als die anderen drei Menschen meiner Stammfamilie. Sie war eine schöne Frau, eine Bayerin mit weiblichen Formen. Mit dem Rest möchte ich wirklich nichts zu tun haben, denn ich bin ein ganz anderer Mensch und es ist sehr kränkend mit dem Negativ eines Menschen verglichen zu werden. Es ist in diesem Zusammenhang natürlich auch als Kränkung gemeint.
Nicht nur in diesem Zusammenhang habe ich schon mehrmals darüber nachgedacht was denn wirklich vererbbar ist, so heute morgen im Halbschlaf. Ohne der Sache wissenschaftlich auf den Grund gehen zu müssen und Chromosomen aufzurechnen, wozu ich sowieso nicht imstande bin, denke ich, es besteht die Möglichkeit, gewisse Charaktereigenschaften, beziehungsweise gewisse Anlagen vererbt zu bekommen. Das Entscheidende an meinem „halbschlafenen“ Geistesblitz ist aber dies, dass diese nie negativ behaftet sind. Erst das Leben und unsere vorgeburtlichen, frühkindlichen oder auch späteren Traumata stellen die Weichen für späteres „Fehlverhalten“.
Meine Grossmutter hatte ausser den körperlichen auch einige gute geistige Anlagen. Sie wurden nicht gefördert, hatten keinen fruchtbaren Boden, nicht als Mädchen und Frau, nicht in einer Zeit, in der Frauen wenig Rechte hatten und doch viel leisten mussten, schon gar nicht im Krieg, Kriegszeitbelastung ist generationenübergreifend. Und plötzlich ist mir klar und es fühlt sich an wie ein geheimnisumwittertes Leuchten: Ich gleiche ihr und ich habe ihre Gene, gute Gene, aber ich hatte andere Voraussetzungen und mehr Bildung und Möglichkeiten zur Reflektion und Kraft mit meinen Widerständen und widrigen Umständen umzugehen. Die Gene sind gar nie negativ besetzt, sondern bilden nur Voraussetzungen. Die individuelle Richtung, die diesen gegeben wird, entscheiden sozusagen die Umstände und im Endeffekt wir.
Es wird geschraubt und Weichen werden gestellt, manchmal schon im Mutterleib. Aber die Grundanlage, woher und wie sich die Gene zusammensetzen, ist gut gedacht. Das heisst, wir können uns nicht weiter die Gene der Vorfahren als Beleidigungen um die Ohren schlagen. Die Gene sind ok. Wie sie in uns wirken, darauf haben wir dann einen Einfluss, wenn wir reflekionsreif sind.
So sind also meine Grossmutter-Gene möglicherweise etwas ganz grossartiges, wenn ich sie zur Blüte bringen kann. Vielleicht kann ich sie damit sogar erlösen!
Was soll ich also meine Anlagen umprogrammieren? Es hat auch sein Gutes, dass ich eine Eule, keine Lerche bin, also morgens noch lange halbschlafend und sinnierend unterwegs bin. „Nicht sehr produktiv“, mäkeln ein paar Stimmen in mir herum. „Das ist wohl genetisch bedingt“, sag ich da nur.