Das Risiko bleibt

Da ist dann noch diese Sache mit dem facebook! Man sollte wissen, dass man sich mit facebook in einem offenen Raum bewegt. Was da gesagt und veröffentlicht wird, ist vielen zugänglich, nicht nur den sogenannten „Freunden“, sondern auch deren „Freunden“ und so weiter.

Meine Tochter versteht nicht, in welchem Ausmass sie sich damit auch dem Spott und der Häme preisgeben kann und ich hoffe darauf, dass ihre facebookfreunde um ihre Möglichkeiten der Kommunikation wissen.

Doch gerade kürzlich hat sich die Frage wieder gestellt, wie weit ich als Mutter kontrollierend einwirken soll und muss. Jemand hat mich darauf angesprochen, ob ich sie nicht schütze, wenn sie sich der Lächerlichkeit preisgibt.

Natürlich will ich mein Kind immer beschützen, vor allem Unbill des Lebens. Nur, sie will nicht. Sie will sich nicht hinter meinen Ratschlägen verstecken, sie schon gar nicht hören. Sie will selber machen, wie alle anderen, ausprobieren und dazugehören und dazu gehört  bei einem speziellen Menschen wie meiner Tochter, vielleicht noch mehr als bei Normalos, dass sie Aufmerksamkeit erregt, sich der Lächerlichkeit preisgibt ohne dass ihr das natürlich bewusst ist und sich somit möglicherweise Verletzungen holt, weil sie dann ausgegrenzt wird. Glücklicherweise ist solches bisher kaum passiert. Vielleicht auch weil ich in kniffligen Situationen da war um sie zu beschützen indem ich meine ganze Akzeptanz und mein Wohlgefallen in den Raum strömen liess. Das ist nicht immer oder nicht mehr möglich. Sie ist jetzt erwachsen.

Wir Normalo-Angehörigen meinen, dass es peinlich sein könnte, wenn sie bei jeder Party ein Ständchen vortrage will und aus vollem Hals, manchmal auch falsch, singt, wenn sie im facebook Statements abgibt, die jeder Rechtschreibegrundlage entbehren und wenn sie zum hundertsten Mal behauptet ihr bewunderter Star sei ihr Freund, nur weil sie in seinem facebook-fanclub ist.

Denn wir sind penibel darauf bedacht, uns ja nicht lächerlich zu machen. Wir bemühen uns, unantastbar zu bleiben und uns nicht in Situationen zu manovrieren, denen wir nicht gewachsen sind. Wir haben es im Griff! Wir wissen unsere Unwelt einzuschätzen. Wir versuchen uns im öffentlichen Raum, selbst unter Freunden, und sicher im Umgang mit Social Medias, so zu äussern, dass wir nicht unbedingt plötzlich den Spott einer ganzen Meute auf uns ziehen, die sich dann einen Spass daraus macht gegen uns vom Leder zu ziehen. Solches hat schon Teenager in den Selbstmord getrieben – dies sei erwähnt um das mögliche Ausmass der facebookschrecken nicht zu mindern. Wir wissen, wie es läuft. Darum ist es unsere Pflicht, darum ist es meine Pflicht meine Tochter zu schützen.

Das stimmt natürlich und das Thema hat mir wieder einmal eine schlaflose Nacht beschert.

Was kann ich tun? Was muss ich tun? Kann ich sie denn überhaupt schützen?

Wenn wir von einer gewissen Akzeptanz Menschen mit einer Behinderung gegenüber ausgehen und von den, wenn auch zäh, doch fortschreitenden Integrations- bzw. Inklusionsbestrebungen, dann muss es möglich sein, dass ein Mensch mit Down Syndrom einen facebook-Account unterhalten kann – auf seine Art und Weise, mit seinen sprachlichen Möglichkeiten – ohne sich der Lächerlichkeit und dem Spott preiszugeben. Oder?

Wenn wir darauf vertrauen, dass auch Menschen, die anders sind als wir und nicht in allem dieselben Möglichkeiten und Fähigkeiten vorzuweisen haben, trotzdem ein einigermassen selbständiges und würdevolles Leben führen können, dann müssen wir ihnen zugestehen, dass sie sich auch in diesem Leben und dieser Gesellschaft bewegen dürfen ohne dass wir sie auslachen und erwarten, dass sie sich so wie wir benehmen oder für sie Getthos schaffen, wo sie nur unter sich, nur unter Gleichgesinnten sind, wo möglichst nichts passieren kann, was uns tangieren könnte. Das heisst doch, dass wir als Eltern unsere Kinder, Halbwüchsigen und auch erwachsenen Kinder dabei begleiten ihren Platz zu finden und ihnen zugestehen sich derselben der Mittel zu bedienen wie wir alle.

Annina hat ein Iphone, ein Ipad, einen PC. Sie schreibt gerne SMS mit ihren Kollegen und Freunden und sie ist auf facebook. Meine Kontrollmöglichkeiten sind begrenzt und trotzdem sorge ich mich schon, dass sie irgendeinem Grüsel auf den Leim geht, denn sie sehnt sich ja nach einem Freund. Ich weiss nicht, ob und wie ich sie in einem solchen Fall schützen könnte. Wir reden immer wieder mit ihr darüber, aber ich bin mir nicht sicher ob sie versteht, worum es geht. Vielleicht will sie es einfach nicht von mir hören. Darum delegiere ich solches auch an die Wohngruppenbetreuer.

Eine weitere Schwierigkeit ist die, dass meine Tochter mir freiwillig keinen Einblick in ihre SMS oder ihren Messanger gewährt. Das sei schliesslich privat. Sie hat Recht und offensichtlich schon ein erstaunliches Mass an Selbstbewusstsein entwickelt. Das meine ich in diesem Sinne, dass sie nicht mehr nur Mamis oder Papis kleines Mädchen ist, sondern ihre eigenen Freunde und Kontakte, ihr eigenes Leben hat, das uns nicht jederzeit etwas angeht.

Das Risiko bleibt, dass sie sich mit ihren öffentlichen Aeusserungen lächerlich macht. Sie zeigt sich, wie sie ist und kann hohen Standards nicht genügen. Doch wer setzt diese?

Es ist auch möglich, dass wer mit Annina auf facebook befreundet ist oder sie kommentiert, schon weiss mit wem er/sie es zu tun hat und somit auch die nötige Akzeptanz im Köcher hat. Darauf kann man sich nicht verlassen? Stimmt. Trotzdem glaube ich an das Gute im Menschen. Der abfällige Kommentar, der diese ganzen Ueberlegungen überhaupt ausgelöst hat, ist nämlich sehr schnell wieder gelöscht worden. Da hat es jemand im Nachhinein doch noch gecheckt.

Wenn ich das Vertrauen aufbringe, meine Tochter loszulassen, damit sie ein eigenständiges Leben führen kann, dann kann ich sie nicht mehr vor allem beschützen. Sie wird auch traurige und verletzende Erfahrungen machen – wie wir alle auch.

Das Risiko bleibt.

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