Der Glaube an das Gute

Am Montag waren wir mit meiner Tochter in einem Konzert. Sie wollte unbedingt ihren Kollegen Roberto Fonseca, den Ausnahmemusiker aus Kuba, sehen. Immer, wenn er in der Schweiz ist, besuchen wir sein Konzert. A. freute sich schon seit Tagen darauf.

Im Moods hat es keine Sitzplätze, nur ein paar Barhocker um Tische, die alle schon besetzt sind. Trotz schmerzenden Knien zwänge ich mich auf Krücke mit Tochter ganz nach vorne, so dass  sie auch gesehen werden kann. Wir setzen uns an den Bühnenrand neben eine Frau in meinem Alter. „Sitzen, wenigstens solange bis das Konzert beginnt.“ denke ich. A. sagt zu der Frau: „Roberto Fonseca ist mein Kolleg.“ Die Frau nickt, weiss nicht so recht, was oder ob sie etwas darauf antworten soll. Glauben tut sie es wohl nicht.

Das Konzert beginnt. Meine Tochter ist aufgeregt. Fonseca spricht mit dem Publikum Spanisch und wir verstehen mehr oder weniger nichts, ausser Bahnhof. Doch das ist nicht relevant. Meine Tochter versteht Musik. Sie tanzt mit und klatscht und schaut hoch auf die Bühne, schmachtet Fonseca an bis er sie endlich sieht und wiedererkennt. Er lächelt ihr zu und hält ihr das Mikro hin, damit sie mitsingen kann. Das tut sie aus vollem Hals, selig.

Ich bin erleichtert, dass er sie wiedererkannt hat. Wäre ja möglich gewesen, dass er sich nicht mehr erinnert. Doch eigentlich passiert das nur mir, dass mich jemand nicht mehr kennt. An meine Tochter erinnert man sich immer.

Es ist das vierte Konzert, von Roberto Fonseca, das wir besuchen, und jedes Mal hat er ihr zugewinkt, sie angelächelt und nach dem Konzert umarmt und sie gefragt wie es ihr so geht. 

Die Frau neben uns macht jetzt grosse Augen. Vielleicht denkt sie, dass A. halt vom Behindertenbonus profitiert. Und ich gebe es zu: Manchmal beschleicht auch mich dieser Verdacht. Ist es opportun, politisch korrekt, PR, wenn ein Star einen Menschen mit Down Syndrom herzt? Gut möglich. Doch will ich es wirklich so sehen? Natürlich kann man diesen kritischen Filter auf seine Wahrnehmungslinse setzen – misstrauisch hinterfragen und die Welt so sehen, wie sie manchmal auch ist. Macht es mich glücklich? Nein! 

Meine Tochter ist speziell. Sie strahlt eine Wärme und unvermittelte Freude aus, die so nicht jedem gegeben ist. Sie liebt Musik, sie geht mit, tanzt, singt, lacht. Darin liegt auch eine Unschuld und unbefleckte Direktheit. Ohne Hemmung und falsche Scham zeigt sie ihre Bewunderung. Das ist liebenswert. Was sie ausstrahlt kommt ebenso zu ihr zurück. Gerade ein Künstler hat feine Sensoren dafür. Darum glaube ich seiner Reaktion und freue mich für mein Kind, dass sie ihren prominenten Kollegen wieder sieht. 

Roberto Fonseca wird sie auch beim nächsten Konzert in ein oder zwei Jahren wieder kennen und herzen und das ist sicher nicht nur eine PR-Strategie, sondern ein Ausdruck von Sympathie und Freude. So will ich das sehen. Diese Sichtweise mag vielleicht naiv sein, doch macht sie mir die Welt zu einem wesentlich besseren Ort, als wenn ich solches misstrauisch hinterfrage und sowohl mir, wie meiner Tochter damit die Freude versaue.

Je mehr Menschen durch dieselbe Linse schauen und das Schöne und Positive voraussetzen, desto mehr werden sie dieses damit hervorrufen. Das ist ein Perpetuum Mobile und steht erst still, wenn jemand böse dazwischenfunkt. Es ist in jeder Situation anwendbar und fast immer wirksam, denn so schaffen wir uns, unserer Umgebung und auch unseren Kindern einen Raum der Begegnung, der nicht beengt wird durch vorzeitige schlechte Annahmen und negative Bewertung. In einer Zeit wo sich ganze Völker auf Wanderung begeben müssen, in neue Kulturen drängen und auf Aufnahme hoffen, brauchen wir das unvoreingenommene Auge. 

Man kann dies weltfremd nennen. Für mich ist es der Glaube an das Gute, der Gutes bewirkt.

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