Die Sorge um die Kinder hat man ein Leben lang…

Man sagt, die Sorge um die Kinder hat man ein Leben lang. Das stimmt schon. Erwachsenen Kindern kann man aber – ist man ein wenig geübt im Loslassen –  das Kümmern um ihre Angelegenheiten überlassen. Bei der Gestaltung ihres Glücks redet man nicht mehr mit. Sie sind jetzt selber kompetente Verwalter ihres eigenen Lebens – hoffentlich. Was bleibt, sind begleitende Wünsche und das Hoffen, dass alles gut kommt. Und manchmal, wenn man Glück hat, wird man um Rat gefragt. Dann kann man dann loslegen mit den weisen Ratschlägen, die sich aus der langen Erfahrung speisen. Hoffentlich! Ansonsten hält man sich besser zurück und kreuzt die Finger.

Es kann auch vorkommen, dass man trösten muss, das traurige Kind in den Arm nehmen und mit liebevollem Verständnis umstreicheln und sich die „Ich hab es ja gewusst..“-Kommentare verkneifen.

Ja, so ungefähr geht’s – im Normalfall.

Im Falle meiner Tochter mit Down Syndrom ist die Sache ein wenig komplexer – so meine ich wenigstens.

Beschränke ich mich bei ihr jetzt auch auf das Trösten und Dasein oder muss, soll ich noch vermehrt erzieherisch oder sonstwie Einfluss nehmen?

Sage ich ihr, dass sie jetzt wirklich auf ihr Gewicht achten sollte, weil sie sonst immer schwerer wird, was ihren Körper, die Gelenke, ihre kleinen Füsse zu sehr belasten und den Halux noch mehr schmerzen lässt? Muss ich mit ihr eine Diät erarbeiten, ich, die ich mich vor ein paar Jahren zur Gewichtskontrollen-Verweigerung entschieden habe und immer noch versuche das gängige Schönheitsideal aus meinem ästhetischen Gedächtnis zu reissen und mit dem Credo zur inneren Schönheit, die nach aussen strahlt zu ersetzen?

Als sie das letzte Wochenende bei mir verbrachte, dachte ich zum ersten Mal: „Uff, sie hat schon ziemlich zugelegt!“ Ich habe ihr zugesehen, wie sie genussvoll Essen in sich hineinschaufelt – dabei war kein Gemüse – und zweifelte daran, dass sie wahrnimmt, wenn sie satt ist. Mir geht es übrigens auch oft so. Sei’s drum! Essen ist ja auch etwas sinnliches und schön.

Neuerdings gehört es zu ihren geliebten Freiheiten und dem Gefühl erwachsen zu sein einmal pro Woche alleine in die Stadt zu fahren und bei Mc Donald’s zu essen. Ich finde das total cool, selbstbewusst und unabhängig. Ich hätte mich in ihrem Alter wohl nicht getraut. Doch: muss es Fast Food sein?

Muss ich mich da einmischen? Soll ich auf sie einwirken, sie überreden, überzeugen, dass sie abnimmt, sich gesünder ernährt? Spielt das Aussehen eine Rolle? Für mich? Für sie? Wie bringe ich ihr bei, wie man sich hübsch kleidet? Wieso kapiert sie nicht, dass sie in Männerhosen und Schlabbershirts nicht sehr anziehend aussieht? Wer sagt, dass ich recht habe? Mein Schönheitsideal, mein Geschmack? Ich meine, ich bin gut darin und mache immer wieder Ueberzeugungsvorstösse, die allesamt abgewehrt werden.

„Lass sie doch!“ denke ich dann. Es ist ihr Leben und ihre Freiheit und es sind ihre Erfahrungen, die sie machen darf.

Und doch möchte ich sie vor den schlechten bewahren. Brauchen spezielle Menschen wie sie nicht unsere Unterstützung? Die Frage, was das genau bedeuten soll, bleibt stehen.

Sie möchte gerne einen Freund haben und ist traurig, dass sie keinen findet.

Das Hamsterrad dreht weiter: Soll ich ihr sagen, dass sie eher einen findet, wenn sie schlank ist und sich weiblich kleidet? Welche antiquierten Denkmuster bringen mir wohl diese Idee? Will ich sie hübsch finden können damit es andere auch können? Wo ist gerade das liebende Mutterauge und wo die vielbeschworene Akzeptanz? Eigentlich sollte sie selber bestimmen, was sie gut und schön befindet. Kann sie aber die Tragweite ihrer Entscheidungen absehen und will sie die Konsequenzen tragen?

Kann es sein, dass sie durch zu viel Essen auch ihren Verdauungstrakt überbeansprucht und so in ihrer Energie und Antriebskraft gehemmt wird? Dieses Thema verknüpft sich mit einem weiteren Problemfeld, das sich aufgetan hat:

Kürzlich hatten wir Probezeitauswertung. Wieder einmal! Bisher habe ich von meiner Tochter nur gehört, dass es ihr sehr gefällt in der Weberei und in der Hauswirtschaft zu arbeiten. Sie wurde in zwei Abteilungen eingeteilt, damit sie genügend Abwechslung hat. Doch obwohl sie ihre Arbeit mag, wie sie sagt, und sie auch wirklich gut kann, hat sie sehr oft keine Lust dazu. Wer kennt das nicht? Menschen mit Down Syndrom geben gerne ihren Befindlichkeiten nach, genauso wie Teenager. Sie ist beides.

So klinkt sie sich aus, geht stundenlang auf die Toilette, quatscht mit ihren Arbeitskollegen herum und motzt, wenn es ihr zu streng wird. Oft ist sie müde, entfernt sich vom Arbeitsplatz um sich irgendwo schlafen zu legen oder macht ein Nickerchen vor Ort. Pünktlichkeit findet sie unnötig, die verpasste Zeit nachholen will sie auch nicht.

Dem ersten Impuls folgend, muss ich lachen, der zweite erinnert mich daran, dass es mir in Jugendjahren manchmal ähnlich ging und in der dritten Gedankenrunde mahnt der Verstand, dass es halt so nicht geht. Genauso das Feedback der Abteilungsleiter – so geht das nicht!

Sie kriegt noch eine Chance, wenn sie sich wirklich Mühe geben will. Andernfalls? Niemand sagt es gerne offen heraus. Der Arbeitsplatz wird anderweitig vergeben – es gibt genug, die darauf warten. Der Wohnplatz ist dann auch weg.

Ich finde das gar nicht lustig. Ich fahre aus der Haut, schimpfe und frage mich dann ob das jetzt zu viel war.

Meine Tochter ist erwachsen und gilt auch vor dem Gesetz als erwachsene Person. Darum erwartet man von ihr eine verlässliche Arbeitsleistung, wofür sie auch bezahlt wird. Andererseits steckt sie wohl noch mitten in der Pubertät und die persönlichen Befindlichkeiten sind ziemlich dominant.

Tja und dann komme ich und sage ihr, dass jetzt wirklich Matthäus am Letzten ist und dass sie sich jetzt am Riemen reissen soll, denn schliesslich…….. Was?…. will sie doch erwachsen sein und möglichst selbstbestimmt und auf der Wohngruppe wohnen bleiben und dafür muss man auch eine Leistung erbringen. Das geht uns allen so, und man muss sich halt manchmal zusammenreissen und über den eigenen Schatten springen, auch wenn man müde oder angepisst ist.

„Jaaa, Mami! Ich han Dich liäb!“ sagt sie und umarmt mich.