Sina will auch einen Freund haben

Sina will auch einen Freund haben

Julian und Lena laufen nebeneinander über den weichen Waldboden. Man sagt dem joggen, wenn man im Trainingsanzug und turnbeschuhten Füssen mit am Körper angelegten, angewinkelten Armen durch die Gegend rennt. Joggen ist Sport und Lena und Julian sind sportlich, aber das nur so nebenbei.

Wichtiger ist, die beiden sind Zwillinge und zwölf Jahre alt. Zwillinge verstehen sich meistens ziemlich gut. Sie haben das schon im Mutterleib gelernt.

Da die beiden also sportlich sind und sich gut verstehen, laufen sie gerne zusammen. Sie joggen in moderatem Tempo, so dass sie miteinander reden können, denn sie  haben sich immer etwas zu erzählen. Auch ihr Vertrauen ineinander wurde wohl schon vor der Geburt geknüpft, als sie sich in Mutters Gebärmutter – auf engstem Raum also – gegenseitig ihre Gliedmassen in die Bäuche stiessen.

Doch sie haben sich auch, jeder für sich, eine Eigenständigkeit erschaffen. Ihre Eltern fanden das wichtig und haben es unterstützt und sie in verschiedene Schulklassen einteilen lassen. Die Tatsache, dass sie Mädchen und Junge sind hat glücklicherweise auch nie dazu geführt, dass irgendjemand in der Familie auf die Idee gekommen wäre sie gleich anzuziehen, wie das in früheren Zeiten Zwillingen oft angetan wurde.

Lena und Julian besuchten also die gleiche Schule, in verschiedenen Klassen und jeder von ihnen hatte seine Freunde und eigenen Hobbys.

Trotz alldem überraschten sie einander oft damit, dass sie dasselbe dachten und sich am Familientisch mit demselben Argument ins Wort fielen. Dann mussten sie lachen und spürten eine Verbundenheit, gefolgt von der Gewissheit, dass sie aufeinander zählen konnten.

Die Zwillinge joggen also durch den Wald. Er liegt am Rande ihres Wohnquartiers, wo sie mit ihren Eltern ein Reihenhaus bewohnen. Es ist ein lauer Spätsommerabend. Die Sonne wirft ihr Licht in Streifen und Flecken auf den Waldboden, der leicht unter ihren Laufschritten nachfedert. Es riecht nach feuchter Erde und Tannennadeln.

„Heute morgen hatten wir eine Mathe-Prüfung. Echt scheisse gelaufen. Hab wohl zu wenig gelernt.“ sagt Lena und schaut kopfschüttelnd zu Boden.

„Echt? Ja, wirklich Kacke! Aber es ist ja erst die erste Prüfung nach den Sommerferien, oder?“

„Schon. Trotzdem. Mathe ist einfach nicht mein Ding, vor allem diese doofen Satzrechnungen und Pa wird immer so schnell sauer, wenn er mir ‚was erklären soll und ich es wieder nicht kapier‘. Wirklich!“

„Frag doch mich!“ Julian grinst ein wenig überlegen, als wäre er der grosse Bruder.“Ich glaub, ich hab’s ziemlich kapiert. Du weisst ja, wie sie sind. Mam kapiert’s auch nicht – ist wohl kein Frauending – und Pa ist halt einer der ungeduldigen Sorte.“

„Na, hör mal, spinnst Du? Was heisst kein Frauending? Das ist ja wohl ein voll alter Zopf. Macho! Auch Mädchen können super in Mathe sein. Nur ich jetzt gerade nicht. Dann schauen wir das nächste Mal, ob Du mir das wirklich so gut erklären kannst.“

„Traust es mir nicht zu, he?“

„Doch, doch, beruhige Dich, Du bist sicher super!“ Lena lacht ihren Bruder frech von der Seite an. Manchmal muss sie ihn ein wenig von seinem hohen Mannesross herunterholen. So sind halt Jungs in dem Alter, findet sie. Da sind die Mädchen schon weit voraus, viel reifer und haben es nicht nötig sich so zu brüsten.

Julian murmelt nur, dass er sich gar nicht aufregt und schlägt einen Wettlauf vor.

„Das ist ja wieder typisch. Immer müsst ihr beweisen, dass ihr besser seid. Wart nur, Du,“ motzt Lena und rennt schon davon. Sofort steigert auch ihr Bruder sein Tempo und peilt das genannte Ziel, die nächste Turntafel des Vitaparcous an. Doch gegen seine Schwester hat er keine Chance.

„Mist,“ denkt Julian. „Nicht gut in Mathe, aber einfach zu schnell.“

Keuchend erreicht er Lena, die siegessicher dasteht, die Hände in die Hüften gestützt mit einem triumphierenden Ausdruck im Gesicht.

„Komm weiter, nicht schlapp machen“, japst er nur und läuft an ihr vorbei. Lena lacht und passt sich dem Laufschritt ihres Bruders an. So laufen sie nebeneinander her, in stillem geschwisterlichen Einverständnis, so lange bis Julian wieder zu Atem kommt und sie sich weiter unterhalten können.

„Sieh mal da vorne. Da liegt etwas.“ Lena sieht das „Ding“ zuerst und beschleunigt wieder ihr Tempo.

„Das ist nur so ein Plüschteddy“ ruft Julian hinterher, „das sieht man doch!“

„Hab meine Brille nicht an, weisst Du doch. Komm, schauen wir mal!“

„Hmmm,“ grummelt Julian „das ist so ein Mädchen-Teil, pink, pfff…..“

Lena hebt den Teddy auf, schüttelt trockene Blätter ab und wischt den Staub von den violetten und blauen Strasssteinchen, die auf des Plüschtierchens Brust befestigt sind.

„Ziemlich kitschig, stimmt. Wem der wohl gehören mag?“

„Zeig mal“, Julian reisst Lena das Ding aus der Hand.

„He, hallo?!“

Julian untersucht den Teddy. Er erinnert sich an all die Drei-Fragezeichen-Krimis, die er schon gelesen hat und fühlt sich jetzt ein bisschen als Detektiv. Er schnuppert an dem Teddy, dreht ihn dann nach allen Seiten um allenfalls etwas Verdächtiges zu erkennen.

„Das Teil ist trocken, also liegt es noch nicht lange hier, erst seit heute circa zehn, elf Uhr da. Gestern hat es geregnet und der Waldboden war sicher bis Mitte Morgen noch feucht von Regen oder Tau.“

„Scharf beobachtet, Brüderlein“ grinst Lea. „und was machen wir jetzt mit dieser Erkenntnis, hä?“ Lena überlegt einen Moment und sagt dann: „Hmm, es könnte sein, dass der Teddy Fabios älterer Schwester Sina gehört. Sie wohnen an unserer Strasse. Die hat doch immer so einen Teddy mit sich herumgetragen. Nein, meistens hing er an ihrem Rucksack.“

„Hä, Sina – kenn ich nicht.“

„Doch Julian, Fabio geht doch in meine Klasse und der hat eine Schwester, die ist behindert. Die hat – wie sagt man? – ein Down Syndrom. Die ging doch früher auch bei uns in die Schule, hat immer alle umarmt und so. Die war immer fröhlich und lieb. Weisst du nicht mehr?“

„Ahh, diieee, ja genau, war immer so ein bisschen peinlich, diese Umarmerei. Aber eigentlich war die wirklich total nett.“

„Tja, was machen wir jetzt mit dem Teddy? Schon komisch, dass der im Wald liegt. Vielleicht hat sie ihn verloren.“

Einen Moment lang stehen sie ratlos da und schauen sich um, Lena immer noch mit dem Teddy in der Hand.

„Du weisst doch, wo sie wohnt, Lena, dann bringen wir ihr den Teddy zurück, oder?“ meint jetzt Julian, wie wenn es nichts Logischeres gäbe.

„Ja, gute Idee. Kommst Du mit?“

„Logo“

Die beiden wollen schon loslaufen, Lena mit dem pinkfarbenen Teddy in der Hand, da hören sie es aus dem nahen Unterholz wimmern und rascheln.

„Pschscht“, Julian hält seinen Zeigefinger an die Lippen. „Hör mal, da ist doch jemand im Gebüsch!“ flüstert er seiner Schwester zu.

Lena bleibt stehen und horcht angestrengt. Da, ein unterdrückter Schluchzer und dann Schniefen.

Möglichst geräuschlos, schleichen die beiden zu dem Busch, woraus die Geräusche kommen. Da wieder! Geheule und Gerotze.

„Da heult wer!“ stellt Julian trocken fest.

„Herzerweichend, ja. Komm!“ Lena zieht ihren Bruder näher an sich heran und hinter sich her, während sie um die Büsche schleicht. Da muss jemand sein, dem es ziemlich beschissen geht.

„Hu, hu, huuuuuu…..“ heult es jetzt laut, sodass die Beiden erschreckt zusammenzucken. Doch die Neugier ist jetzt auch gross genug, und sie wollen der Sache auf den Grund gehen.

Und da, hinter den stachligen Stechpalmen, mitten in Brombeergestrüpp und grünem Königsfarn sitzt Sina im Schneidersitz auf dem Waldboden und weint sich ihre Mandelaugen rot.

„Sina,“ ruft Lena. „Was machst Du denn hier? Und warum weinst Du?“ Lena geht in die Hocke und ergreift Sinas Hand. Lena hat keine Berührungsängste. Julian staunt darüber. Er ist da viel gehemmter, weiss nicht, wie er sich in solchen Situationen verhalten soll. Darum steht er jetzt einfach da und wartet.

Sina schluchzt und der Sabber läuft ihr aus dem Mund auf ihre Jeanshorts. Ihre Nase läuft und droht ebenfalls zu tropfen. Lena klaubt aus ihrer Trainingshose ein Papiertaschentuch und reicht es Sina. „Hier, putz Dir mal die Nase und dann erzähl uns, was los ist! OK?“

„Ja.“ Sina nickt und schneuzt sich geräuschvoll die Nase. Sie scheint erleichtert, dass sie nicht mehr alleine ist, dass jemand sie beachtet, fragt, Anteil nimmt.

„Ich bin soo traurig.“ jault sie.

„Warum denn Sina? Ist es, weil Du Deinen Bären verloren hast? Schau, hier, wir haben ihn gefunden.“

„Nein, weg mit blödem Bär, will nicht mehr – fortschmeissen!“, erneutes heftiges Schluchzen, Heulen und Schniefen folgt und Sina reisst Lena den Bären aus der Hand und wirft ihn ins nahe Gebüsch.

„Ich will nicht Bär, ich will Freund haben…, huuuu, huuuuu…“ heult Sina laut. „Justin Biiieeeber!“ Sie schlägt die Hände vors Gesicht und jammert noch lauter vor sich hin. Lena kann sich ein kleines Grinsen Richtung Julian nicht verkneifen, hebt ein wenig ratlos die Schultern, nimmt sich dann aber sogleich zusammen und wendet sich mit ernster Miene wieder Sina zu.

„Sina, der Bieber ist ein Star. Den kannst Du nicht als Freund haben – hey, ich übrigens auch nicht.“

„Doch, ich will! Ich will Starfreund…. hu, huuuu, huuuu…..“

Sina ist untröstlich und Lena wird klar, dass sie Sina mit so blöden logischen Argumenten nicht trösten kann. Schliesslich hat es in ihrer Klasse sicher ein halbes Dutzend Mädchen, die ins abgehobene Schwärmen geraten, wenn’s um Justin Bieber geht. Auch die träumen wohl davon seine Freundin zu sein. Wie soll sie dann Sina klarmachen, dass solche Träume nichts bringen. Sie selber schwärmt eher für Filmstars, aber auch die sind unerreichbar und das hat sie schon vor einiger Zeit gecheckt.

„Echt jetzt, nicht im Ernst oder? Der Bieber ist ja wohl das Letzte, so ein Schmalzbubi!“ Julians Versuch auch etwas tröstliches beizutragen hat nicht ganz den beabsichtigten Effekt.

„Doooch,Justin ist schön und kann singen! Ich liebe Justin!“ Sina heult noch lauter, sodass die beiden Geschwister sich erschreckt ansehen.

„Super gemacht, Julian, wirklich sehr einfühlsam!“ raunt Lena ihrem Bruder zu und streckt in ironischer Anerkennung ihren rechten Daumen in die Höhe.

„Hey Sina, warum suchst Du Dir nicht einen Freund, der wie Du ist, der auch behindert ist? Mit dem würdest Du Dich sicher gut verstehen und ihr hättet es lustig zusammen. Ich habe auch einen Freund aus meiner Klasse, keinen Star.“

‚Seit wann hat Lena einen Freund?‘ wundert sich Julian, der beschlossen hat, fortan die Klappe zu halten.

„Nein, hör auf, ….. so behindertes Zeugs zu sagen. Ich will nicht hören!“ mault Sina steht auf und will davonlaufen.

Das ist voll daneben gegangen! ‚Sie will nicht behindert sein und will es auch nicht hören.‘ registriert Lena.

„Es tut mir leid Sina, komm, für mich bist Du einfach speziell. Speziell sein ist doch toll. Oder?“ Sina strahlt sofort übers ganze Gesicht und nickt. „Und jetzt begleiten wir Dich nach Hause. Wir sind doch Deine Freunde, das ist doch auch etwas, oder? Und Dein Teddy ist doch Dein Glücksbringer, den nehmen wir mit.“ Einer plötzlichen Eingebung folgend, erzählt Lena: „Ich habe übrigens auch so ein Plüschtier zuhause, einen Hund, er heisst Bella, es ist eine Sie, und immer, wenn ich traurig bin, hole ich sie hervor und sag ihr alles, was mich beschäftigt, das tröstet mich. Willst Du das nicht auch einmal versuchen mit Deinem Teddy?“

„Okeee,“ jetzt strahlt Sina bis hinter beide Ohren. Schnell ist ihre Welt wieder in Ordnung. „Wie Freund?“

„Ja, genau! Wenn ich traurig bin, dann weine ich mit Bella zusammen und wenn ich wütend bin, darf ich Bella anschimpfen und wenn ich fröhlich bin, erzähle ich ihr warum. Und wir, wir sind doch jetzt auch Freunde, uns kannst Du auch erzählen, wenn Dich etwas bedrückt, ok? Abgemacht? Give me five!“ Sie klatschen ihre Handflächen aufeinander und auch Julian kommt dabei wieder zum Einsatz. Zusammen, die jetzt strahlende Sina in ihrer Mitte eingehackt, gehen sie nach Hause.

An diesem Abend liegt Lena noch lange wach. Sina will ihr nicht aus dem Kopf. Darum schleicht sie nochmals zu Julians Zimmer, klopft, öffnet leise die Tür und raunt ins Dunkel: „Hey Bruderherz, bist Du noch wach?“

„Ja, komm rein.“

Lena schlüpft ins Zimmer und setzt sich auf Julians Bett zu seinen Füssen.

„Ich muss immerzu an Sina denken. Überleg mal, die träumt davon, einen Freund zu haben, möchte wohl auch auf Partys gehen und findet dasselbe cool wie wir. Aber sie kann das nicht wie wir, weil sie behindert ist! Ich finde das schon ziemlich traurig.“

„Hmmmm, ja, stimmt schon. Aber es nützt nichts rumzuheulen deswegen. Schlussendlich muss sie damit leben.“ stellt Julian trocken fest. „Aber klar, wenn man sich überlegt, man wäre selber in dieser Lage, ist es schon nicht so lustig.“

„Du hast gut reden, Brüderchen, überleg mal, Du siehst ziemlich gut aus und die Mädchen Deiner Klasse, die nicht auf Justin Bieber stehen, schwärmen von Dir. Stell Dir mal vor, Du wärst einfach hässlich, unbeliebt oder hättest zwei verstümmelte Hände oder sowas!“

„Ja, ok, wär Scheisse, aber wir sind ja nicht die, die andere deswegen verspotten, oder? Haben wir nicht nötig. Wir sind sozial.“

„Ha, ha, ha, …..“ Lena lacht und schüttelt ihren Bruder. „Puahhh, soo sozial! Dann werden wir das jetzt beweisen. Morgen nach der Schule besuchen wir Sina und fragen sie ob sie mit uns zum Jugendtreff kommt, ok?“

„ööhmm…. ok. Ok, ja, das tun wir“

Einmal im Monat, am Freitagabend treffen sich Lena und Julian mit ihren Freunden aus der Schule im Jugendtreff. Sie hören Musik, trinken etwas zusammen, spielen Tischfussball oder Pingpong und unterhalten sich. Wenn Sina dabei ist, gibt es immer viel zu lachen. Alle kennen und mögen sie. Immer noch umarmt sie alle und neuerdings kommt Sina mit Philippe, Hand in Hand, er ist auch speziell, er hat auch ein Down Syndrom. Philippe ist Sinas neuer Freund.

Februar 2016

Ingrid Eva Liedtke