Inklusion: Zuhören-Entschleunigen-Verstehen

An Weihnachten habe ich meine Kinder zuletzt gesehen. Ich vermisse sie oft und will doch akzeptieren, dass sie alle jetzt ihr eigenes Leben haben. Meine Tochter ruft mich regelmässig an und sie fragt immer, wie es mir geht und was ich mache. Ich erzähle ihr etwas und frage zurück wie es ihr geht und was sie macht. Bei der Frage ob sie mir etwas erzählen will erschöpft sich oft unser Redestoff. „Nein, wollte nur hallo sagen.“ und dann will sie wieder aufhängen, nachdem sie noch ein paar Mal wiederholt hat, dass sie mich lieb hat und vermisst. Ich sage ihr auch, dass ich sie lieb habe und vermisse und dass sie jederzeit anrufen kann, wenn sie etwas erzählen will.

Sie erzählt aber selten etwas, denn sie kann nicht so gut erzählen, nicht lange zusammenhängende Sätze formen, nicht komplexe Sachverhalte schildern und schon gar nicht diskutieren. Es ist eine Herausforderung, wenn man mit ihr über ein Thema sprechen will und manchmal blockt sie ab, weil es ihr unangenehm ist. „Das ist privat.“ sagt sie dann, z.B. wenn sie auf facebook gepostet hat, dass sie mit Samu Haber (ein Musikstar) zusammen ist und es böse Kommentare schneit, die wir dann im Familien- und Freundesverbund zu beantworten und unterbinden versuchen um sie zu schützen – nicht wirklich eine private Angelegenheit, versuche ich ihr wiederum klarzumachen. Trotzdem: „Thema verlassen, Mami, ist privat.“ Ich muss lachen und respektiere das. Ich wünsche mir, dass wir  in den wenigen Stunden, die wir pro Monat verbringen können, einen Austausch finden. Ist mein Wunsch auch ihr Wunsch? Sehrwahrscheinlich ist sie mit unserer Kommunikation ganz zufrieden und schätzt es auch, dass sie sich auch mal einfach in ihr Zimmer zurückziehen kann. Sie darf sich abgrenzen. Das ist wichtig um eigene Grenzen zu spüren. 

Trotz ihrer verbalen Limiten, realisiert meine Tochter, wer sich die Mühe macht ihr zuzuhören, sich die Zeit nimmt sie zu verstehen, wer wirklich an ihr interessiert ist. Sie spürt Ablehnung oder Desinteresse und will dann einfach nicht dahin, zu diesen Leuten, die ihr nichts sagen und nicht zuhören. Sie ist jetzt alt genug um so ihr Bedürfnis zu äussern.

Es wird so viel von Inklusion gesprochen. Doch was bedeutet sie wirklich?

Gerade an Weihnachten oder anderen Familienfesten, wenn die ganze Familie am Tisch sitzt, jeder erzählt, sich Diskussionen entspinnen und die rhetorisch Gewandten punkten und die Schnellen sich durchsetzen, geht meine Tochter unter. Sie ist zu langsam und spricht manchmal unverständlich. Man müsste sich Mühe geben und das tun die wenigsten im Feuer des Gefechts. In einer grossen Runde mit schnellem Konversationspingpong kann sie sich kein Gehör verschaffen. Sie wird übergangen und langweilt sich dann irgendwann auch. Sie gehört dazu, ist integriert und wird doch nicht recht wahrgenommen.

Das ist nicht immer so. Es gibt durchaus Menschen in unserem engen und weiteren Kreis, die interessiert auf diese junge Frau mit Down Syndrom zugehen, sich auf ein Gespräch einlassen, fragen und zuhören, warten, wenn es sein muss, bis sie verstanden haben, was meine Tochter meint, die sich mitreissen lassen von ihrem fröhlichen Wesen und ihrer vorurteilslosen Art. Ich muss gestehen, dass ich nicht immer dazu gehöre, dass ich mir die Zeit manchmal nicht nehme oder dass ich ihr die Antworten vorsage, sodass sie nur noch Ja oder Nein sagen muss – das geht schneller. Dafür schäme ich mich und ich versuche es bei nächster Gelegenheit besser zu machen.

Das ganze Gerede von Akzeptanz und dass jeder Mensch ein Individuum ist und sich immer von seinem Nächsten unterscheidet, von Stärken, die man fördern kann und Schwächen, die jeder hat, hat nur Sinn, wenn wir uns genau in solchen Situationen, in denen wir auf spezielle Menschen treffen, öffnen und uns die Mühe machen – besser ist es, wenn es mühelos geschieht – wirklich zuzuhören, mit den Ohren und dem Herzen um zu verstehen mit wem wir es zu tun haben und was dieser Mensch uns sagen will und kann. Und wenn man es bedenkt – gerade jetzt – dann sollte man diese Achtsamkeit jedem Menschen schenken. Jeder hat eine Chance und einen Platz verdient und das Recht wahrgenommen zu werden, so wie er ist: Das ist Inklusion!

Ein Herausforderung in unserer schnellen Welt? Durchaus, doch nicht minder empfehlenswert, denn diese Entschleunigung, die es dazu braucht, wirkt in Wellen und lässt auch andere Geräusche ertönen, die aus unserem Inneren kommen. Vielleicht ebnet das genaue Hinhören den Boden für die Hingabe, die wir brauchen um uns und unsere Mitmenschen, seien es Spezielle, Normale, Kinder, Jugendliche, Erwachsene oder alte Leute besser zu verstehen und vielleicht auch zu lieben.

Denn, vergessen sollten wir nicht, dass wir alle eins sind und auf diesem Planeten zusammen leben.

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