Integration

Ich bin der festen Ueberzeugung, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung wichtige Teile unserer Gesellschaft sind, weil sie uns einen Spiegel hinhalten um uns zu zeigen, dass unser Bemühen um Schönheit, Jugendlichkeit, Perfektion und Effizienz nicht die einzigen Kriterien für ein wertvolles Leben sein dürfen.

In jungen Jahren habe ich mich immer fern gehalten von allem, das meines Erachtens nicht schön, nicht cool war. Schönheit, gutes Aussehen, Stil, der Wunsch perfekt zu sein, gaben mir wohl Halt, einen zweifelhaften, wie mir später klar wurde. Nach der Geburt meiner Tochter ist dieses Konzept, dieses alles andere als solide Gerüst innert weniger Minuten in sich zusammengefallen und ins NIchts zerbröselt. Es hat Platz geschaffen – glücklicherweise – für eine Herzensangelegenheit, die mir viel mehr gibt als der Anblick von Schönheit, obwohl diese durchaus weiterhin einen Platz in meinem Leben hat, aber nicht mehr in der vordersten Reihe. Ihrer Definition habe ich zudem einen weit grösseren Rahmen gesteckt. Kaum habe ich von der Behinderung meiner Tochter erfahren, habe ich in sekundenschnell beschlossen, mich meinem einstigen Diktat nicht weiter beugen zu wollen und mein Kind in mein Herz geschlossen. Ein Geschenk! Noch nie sind mir seither Zweifel gekommen und noch nie hat sich Zweifel oder gar Verzweiflung breit gemacht – nicht wegen Annina. Im Gegenteil! Immer, und es sind seither neunzehn Jahre ins Land gezogen, habe ich mich über dieses Menschenkind gefreut, das mein Leben, natürlich nebst seinen Geschwistern, so wunderbar bereichert hat, und ich bin täglich dankbar für die Gnade dieser Akzeptanz und Liebe, die mir geschenkt wurde.

Eine der ersten Entscheidungen bei Anninas Geburt war, dass ich ein ganz „normales“ Leben mit ihr führen wollte. Annina sollte wie ihre Brüder behandelt werden und da abgeholt, wo sie es eben brauchte. Hilfreich dabei war natürlich die Tatsache, dass sie zwei Vorbilder hatte, ihren Zwillingsbruder Dominik und ihren drei Jahre älteren Bruder Damian. Es ist uns allen gelungen ein Familienleben zu führen, das keinesfalls diktiert oder beeinträchtigt wurde von Anninas Down Syndrom, nicht am Rande der Gesellschaft, sondern mitten drin, möglicherweise gerade weil Annina immer wieder verbindendes Glied war, weil sie es versteht Herzen zu öffnen. Diese Entscheidung für ein „normales“ Leben und das „Ja“ zu meiner Tochter haben meine Wahrnehmung und die meiner Familie und somit unser aller Leben in Gegenwart und Zukunft geprägt.

Natürlich kann man lange darüber diskutieren oder gar streiten, was „normal“ überhaupt bedeutet. Es ist ein in den meisten Fällen unzureichendes Wort und ich gebrauche es im Zusammenhang mit meiner Tochter Annina und sogar generell nur in Anführungszeichen, da es immer nur dazu dient zu vergleichen und zu bewerten. Meine Tochter ist aber nicht mit unseren so „normalen“ Werten zu messen und genau das macht das Geschenk ihrer Gegenwart aus, denn sie hält uns alle immer wieder dazu an, neue oder bestenfalls gar keine Bewertungsgrundlagen zu haben und unsere Mitmenschen so anzunehmen, wie sie sind, so wie sie selber uns das vorlebt. Man sieht, sie wird uns oft zum Vorbild!

Vielleicht taugt nicht jeder Mensch mit Handicap als Vorbild, vielleicht ist nicht jeder in jedem Falle in jede menschliche Gemeinschaft integrierbar, aber das ist auch ein sogenannt „normaler“ Mensch nicht immer. Es ist von vielen Faktoren abhängig. Die Frage sollte sein ob unsere Gesellschaft allen Menschen die Möglichkeit bieten kann eine Form des sich Einfügens zu finden und darin ein menschenwürdiges und integriertes sprich „normales“ Leben zu führen, welcher Gestalt auch immer dies ist. Niemand möchte sich an den Rand gedrängt fühlen, jeder wünscht sich wichtiger Teil eines Ganzen zu sein, zugehörig und willkommen. Ich glaube, dass jeder Mensch in seiner ursprünglichen Anlage als wichtiger Bestandteil dieser grossen Einheit gedacht ist. Ein erster wichtiger Ansatz in diese Richtung liegt in der Verantwortung, die wir Eltern von behinderten Kindern haben, wie wir sie in diese Welt führen, wie wir sie begleiten. Dass wir sie begleiten müssen, steht ausser Frage. Damit verbunden ist immer unsere persönliche Wahrnehmung. Wie fühlen wir uns in dieser Gesellschaft? Wie fühlen wir uns mit unserem Kind? Hängt das von uns ab oder davon, was wir von unserer Umwelt gespiegelt bekommen? Vice versa! Darum liegt es immer auch in unserer Macht, wie wir mit und neben unserem Kind nach aussen treten. Wie kommunizieren wir mit der Welt da draussen? Was tragen wir in die Welt? Die Freude und den Stolz an unserem Kind oder Schuld und Scham? Was ich in die Welt hinaustrage, kommt zurück und genauso spiegelt uns das Aussen, so werden wir empfangen, mit offenen Armen oder an den Rand gedrängt. Genau in dieser Begegnung liegt das Potential, das wir alle nutzen können um diese Welt zu einem besseren Ort zu machen und noch sehr viel zu lernen, von den Menschen mit einer Beeinträchtigung und auch von und mit uns selber.

Meine Tochter war mir genauso oft Integrationshilfe, wie ich ihr.