Jede Hand hält und zählt

Im letzten Blog glaubte ich an das Gute. Wenn man nach Aleppo blickt, auf die jüngsten schrecklichen Ereignisse dort, dann kann dieser Glaube wahrlich verloren gehen und ich bin sicher, er ist vielen, der direkt Betroffenen abhanden gekommen. Ich meine, das nachvollziehen, verstehen, zu können und doch wird sich mir – und ehrlich gesagt, bin ich wahnsinnig froh darüber – das ganze Ausmass des Leides nicht erschliessen.

Ich sitze hier in meiner warmen Stube, mein Haus ist vom Nebel weich eingewattet, es duftet nach frischem Brot, das ich eben gebacken habe und mein Hund räkelt sich wohlig auf seinem Kissen. Meine einzigen Herausforderungen für den heutigen Tag sind meine schmerzenden Knie und mein Zeitplan, der mich wohl wieder nicht alle meine Vorhaben verwirklichen lässt.

Sonst habe ich keine Probleme.

Wenn ich hungrig bin, nehme ich mir etwas aus dem Kühlschrank oder ich steige ins Auto und gehe einkaufen. Ich weiss zu neunundneunzig Prozent, dass mir heute nichts Schlimmes passieren wird und auch nicht meinen Liebsten. Natürlich weiss man nie ob das Schicksal zuschlagen will, aber die Chancen stehen, statistisch gesehen, gut für mich – hier.

Wie muss es sich im Gegensatz dazu anfühlen, wenn nichts mehr sicher ist. Wenn alles, was wir lieben, was wir uns aufgebaut haben zerstört wird? Ich tendiere zu behaupten, dass der Menschen Hoffnung schwer zerstörbar ist, selbst in den allerschlimmsten Umständen. Doch es fällt mir ganz leicht – als Mutter – nachzufühlen, wie traumatisch, ja unglaublich schmerzhaft es sein muss, wenn einem ein Kind getötet wird. Das Kind, das wir von Geburt an geliebt, gehegt und gepflegt haben, das wir vor jedem Sturz und allem Schmerz bewahren wollten und das nun den absoluten Horror erleben muss, nämlich, dass seine Familie, sein Ort der Zuflucht und Sicherheit und sein Leben bedroht und gar zerstört werden. Unvorstellbar die Verzweiflung all dieser Mütter und Väter, die ihre Kinder nicht schützen können und sie im Zeitpunkt ihres Todes nicht einmal im Arm halten dürfen, weil sie ihnen weggerissen werden von einer Bombe oder sie liegen verschüttet unter Trümmern während sie ihr kleines Leben aushauchen, das ihren Eltern und Geschwistern so wertvoll war.

Ich will die Schilderungen des Leids nicht fortsetzen. Vielleicht weil es mir dann zu nahe ginge – der Verlust eines Kindes ist schlicht unzumutbar, nicht verkraftbar, herzbrechend – und auch, weil ich doch irgendwie kein Recht habe in diesem Trauma zu wühlen, hier in meinem fetten, satten Leben.

Dieses Trauma, dem wir zuschauen (müssen?), ist immens und wird noch Generationen belasten, das ist sicher. Wenn wir über Kriegsenkel sprechen und schreiben und die Folgegenerationen der traumatisierten Weltkriegsgeneration meinen, dann sollten wir den Blick auf die aktuellen Geschehnisse richten und uns vor Augen halten, wieviel Leid und Trauma gerade jetzt, neu, auf dieser Welt erzeugt wird. Dieses Leid, das weitergetragen wird von Generation zu Generation, hat eine immens lange Halbwertszeit. Wie kann ein so geschundenes Volk, traumatisierte Kriegsgeschädigte, Versehrte an Leib und Seele, seine Nachkommen in Liebe und gutem Glauben in die Zukunft führen?

Ich weiss darauf keine Antwort. Ich weiss, dass der Horror meist den nächsten erzeugt, weil traumatisierte Menschen eben so reagieren oder gar nicht mehr dazu fähig sind.

Und doch! Ich weiss auch, dass es immer Menschen gibt, denen es gelingt die Hoffnung hoch zu halten und die Liebe durch die allerschlimmsten Zeiten zu retten. Das Prinzip der Nächstenliebe, ein jeder Religion übergeordnetes Glaubensprinzip ist resistent im Menschen und entfaltet sich gerade in Krisen und an den dunkelsten Orten. Dahin sende ich meine Hoffnung und meine Gebete. Die Liebe zum nächsten, die in vielen Menschen unzerstörbar ist, kann uns alle retten. Wenn wir – auch hier im sicheren Westen, wo uns wohlig warm ist und wo die Bäuche satt sind – unsere Hand zur Hilfe und Nächstenliebe reichen, kann der Same der Hoffnung gepflanzt werden für eine bessere Zukunft.

Jede Hand, die einen Anderen in Mitgefühl berührt, lindert ein wenig den Schmerz. Jede Hand hält und zählt.

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