Mobilisiert den guten Menschen in und um Euch – die Welt braucht ihn

Gutes tun und darüber reden? Mein innerer Mahnfinger hat sich soeben gegen solche unlauteren Marketingstrategien erhoben. Warum? Weil ich jetzt laut oder besser gesagt öffentlich nachdenken möchte, was ich tun könnte um zu helfen. Aber ich übersehe ihn jetzt mal, den Finger. Um political correctness kümmere ich mich später.

Die Flüchtlingskrise und ihre schrecklichen Bilder verfolgen mich. Diese menschlichen Dramen lassen wohl kaum jemanden kalt.

Ich stelle mir vor, wie es für mich wäre, steckte ich in deren Haut. Das  empfehle ich all diesen Abgebrühten, die nur um ihren Wohlstand fürchten und gerne angstvoll die Schotten dicht machen. Hallo?! Wir haben es hier mit Menschen zu tun, Menschen wie Du und ich. Vielleicht kommen sie aus einer anderen Kultur, sprechen eine andere Sprache und glauben nicht an unseren Gott. Trotzdem sind es Männer und Frauen, Väter und Mütter, die um das Wohl ihrer Familie besorgt sind und auf eine menschenwürdige Zukunft hoffen, alte Menschen, die gerne einen ruhigen Lebensabend verbringen würden und Jugendliche, die gerne eine Perspektive hätten. Es sind Menschen, die auch gerne leben, wie wir auch.

Jede Frau, die selber Kinder hat, weiss, was es bedeutet um das Wohl seiner Liebsten besorgt zu sein. Nichts fürchten wir so sehr als den Verlust eines unserer Kinder. Etwas von uns würde sterben. Mir wäre es unerträglich. Wie könnte ich weiterleben?

Ich erinnere mich, als meine Drei noch klein waren und so unschuldig und schutzbedürftig. Da wurde ich manches Mal zur Glucke und wollte sie am liebsten den ganzen Tag unter meinen Flügel behalten, nur damit ihnen ja nichts Böses geschehen kann.

Wie vielen Müttern ist es bei der momentanen Lage möglich, ihre Kinder nachhaltig zu schützen? Wie vielen von ihnen werden ihre Kinder weggeschossen, brutal umgebracht oder auf der Flucht genommen vom stürmischen Meer? Diese kleinen schutzlosen Wesen, das Herzblut jeder Mutter, wie auch die  grossen Kinder, die sie solange durchs Leben begleitet haben, sie gehegt und gepflegt und mit ihrer ganzen Liebe bedacht haben, Söhne, vom Krieg geraubt und zerschmettert.

Das Leid muss unermesslich sein und beschwert unsere Welt.

Ich möchte es mir gar nicht vorstellen, denn es drückt mich derart nieder, dass ich handlungsunfähig werde. Schnell verdränge ich um zumTäglichen überzugehen. Das kann ich, denn ich habe eine Wahl und wie verlockend sind diese Alternativen! Die Sonne scheint in mein Schlafzimmer. Auf der Wiese unten am Wald grasen ein paar Rehe und die Aussicht über die ländliche Landschaft hinunter zum Zürichsee ist prachtvoll. Ich bin dankbar dieses tolle Los gezogen zu haben, froh in der Schweiz geboren zu sein und hier leben zu dürfen, wie die Made im Speck. Wir haben alle so viel. Es geht uns wirklich gut.

Doch….! Man stelle sich mal vor: Vielleicht lebten einige der Flüchtlinge aus Syrien so wie wir, waren gebildet, hatten spannende Jobs, ein gutes Auskommen, waren glücklich oder auch weniger glücklich verheiratet und die Kinder am Aufwachsen, gingen in Kindergärten und Schulen, wie hier bei uns. Man hatte Alltagssorgen und nervte sich manchmal über nichts. Andere hatten es weniger gut getroffen – auch wie bei uns –  waren weniger gebildet, mussten sich mühsam ihr Leben verdienen um durchzukommen. Doch sie alle lebten in ihrem Land, ihrer Heimat, ihrem Zuhause, das sie sich geschaffen haben. Und irgendwann ist alles in Gefahr, nichts mehr sicher, Leib und Leben bedroht und Haus und Hof zerstört.

Ich stelle mir das jetzt mal so richtig vor, wie es ist, wenn ich von einem Tag auf den anderen flüchten muss, nur mitnehmen kann, was meine Hände tragen können und vor allem, was ich für meine Kinder brauche. Mein schönes Haus, der Garten, meine schönen Sachen, die mir teuer sind, meine Fotos, all das, was ich ein Leben lang zusammengetragen habe muss ich zurücklassen, wird wohl zerstört oder geplündert werden. Nichts davon bleibt. Ok, das ist nur materiell! Aber werde ich genug zu essen für die Kinder mitnehmen könne? Werden sie warm genug angezogen sein? Was ist, wenn die Windeln alle sind, ich dem Kleinen keinen warmen Schoppen machen kann? Was ist mit ihren Spielsachen, dem Lieblingskuscheltier, dem Nuggi? Kann ich noch irgendwo in unserem Gepäck und auf die Schnelle ein paar warme Sachen, eine Decke für die Nacht unterbringen? Was kann ich zu Geld machen, das wir den Schleppern geben müssen. Kann ich meine Uhr und den Schmuck noch unterwegs verwerten? Wie auch immer…

Ich wäre verloren, wüsste nicht wo mir der Kopf steht und der Schmerz über den Verlust von allem, was mir Heimat war, würde es nicht einfacher machen. Doch was weiss ich? Vielleicht wird alles unwichtig angesichts der massiven Bedrohung und unbekannte Kräfte werden mobilisiert. Die Macht der Hoffnung ist nicht zu unterschätzen. Sie treibt den Menschen an und ermöglicht ihm Unmögliches zu leisten und zu ertragen. Auch ich würde es wohl schaffen, mein Wärchen und meine Kinder zu packen und mich auf den Weg zu machen in das gelobte Land, wo alles besser werden soll oder wo wir wenigstens etwas zu Essen, ein Dach oder fürs Erste ein Zelt über den Kopf und ärztliche Versorgung bekommen.

Wer all diese Strapazen lebend überstanden hat, ist sicher erschöpft und froh um jede Hilfe die kommt. Fremd, nackt und traurig, stehen diese Menschen an unseren Grenzen. Sie haben alles verloren, was ihr Leben ausmachte, manchmal sogar ihre Kinder. Wie schrecklich!… und wir haben so viel!

„Eigentlich sollte man jemanden bei sich aufnehmen.“ denke ich. Aber darüber reden und es auch tun, sind zwei Paar Schuhe. Ich habe wohl nicht den Mumm dazu. Fremde Menschen bei mir zuhause? Das wäre mir nicht so geheuer. Zudem habe ich jetzt gar nicht so viel Zeit.  Am Samstag bekomme ich ein Hundebaby und dafür muss ich jetzt sorgen. Ein Luxusproblem! Ja, aber muss ich mich schuldig fühlen, weil es mir gut geht?

Dass sich schon 700 Freiwillige dafür gemeldet haben Menschen bei sich aufzunehmen, es aber im Kanton Zürich ziemlich schwierig zu bewerkstelligen ist, beruhigt mein Gewissen. Ein Stein fällt mir vom Herzen und es reicht mir die zu bewundern, die es trotzdem tun, die die Behördengänge auf sich nehmen und wildfremde Menschen dabei begleiten in unserer Gesellschaft irgendwie anzukommen.

„Dann spende ich etwas!“ Finanzielle Hilfe ist immer gut. Aber eigentlich habe ich ja gar nicht so viel Geld, müsste selber schon lange sparen. Meine Familie, die ich zu mobilisieren versuche macht dicht. Momentan ist schlecht, das Budget schon überstrapaziert. Was auch immer das in unser wohlbegüterten Schweiz heisst. Eben,  alles Luxusprobleme! Man will dann doch nicht verzichten. Ich schäme mich ein bisschen, während ich mich wohlig in meinem Bett räckle und an weiteren Möglichkeiten der Hilfeleistung herumdenke. Ich kann ja nichts dafür, dass es mir gut geht…. und ich bin ja auch sehr dankbar dafür. Ich wiederhole mich.

Trotzdem, so einfach will ich es mir diesmal nicht machen. In meinem nächsten Umfeld sprechen wir darüber. Auch an den Berichten in den Zeitungen kommt niemand von uns einfach so vorbei. Meine Schwester verzichtet auf ihre Geburtstagsparty und spendet Geld. Wir diskutieren über weitere Möglichkeiten. Die Bilder von ertrunkenen Kindern und verzweifelten Müttern und Vätern bringen wir nicht einfach so schnell aus unseren Köpfen.  Wir könnten einen Schritt weiter zu gehen. Meine Schwester erkundigt sich, was man wirklich tun kann. Es gibt so einiges, dass gut kompatibel ist mit unserem Alltag und unserem Leben. … und schon schäme ich mich wieder für diese Argument…. Ein wenig Zeit, Geld und persönliches Engagement haben wir doch alle zu vergeben – und Mitgefühl und Akzeptanz und vielleicht auch Interesse und Neugier an einer anderen Kultur, an Menschen eben. Jetzt können wir das alles unter Beweis stellen und unseren ewigen Lippenbekenntnissen Taten folgen lassen. Das „man sollte“ wird Realität. Wir entscheiden uns dafür eine Familie zum Znacht einzuladen. Wir wohnen in Häusern und haben Platz. Unsere Männer sind begnadete Köche und wie sind gerne Gastgeber. Wir können einer Familie einen schönen Abend bescheren.

Meine Schwester hat uns schon angemeldet und jetzt freue ich mich richtig darauf. Ich freue mich darauf etwas Gutes tun zu dürfen, aber auch darauf fremde Menschen aus einer anderen Kultur kennenzulernen und sie ein ganz kleines Stück auf ihrem Weg zu begleiten und ihnen dabei ein wenig Freude zu bereiten. Ich glaube und hoffe, dass diese Begegnung auch dazu führt Barrieren abzubauen. Das Fremde wird zum Bekannten oder sogar zum Freund. Erwartungen und Vorstellungen – wir werden sehen inwiefern sie erfüllt werden.

Und damit komme ich zurück auf  „Tue Gutes und rede darüber“: Genau das tue ich jetzt und ich werde auch davon berichten wie es war. Dies um andere dazu zu bewegen sich ebenfalls zu engagieren und wie gut es tut, Gutes zu tun. Möglich auch, dass wir für uns selber wertvolle, neue Erfahrungen machen und sei es nur die, dass auch wir wohlgenährten Schweizer zusammenstehen können um Menschen in Not zu helfen. Ich bin sicher, uns wird noch mehr dazu einfallen und das gibt ein warmes Gefühl im Bauch, ein guter Nährboden für Mitgefühl und Grossherzigkeit. Die brauchen wir in diesen Zeiten.

Die Nachricht muss verbreitet werden, auch auf die Gefahr hin, dass wir unser schweizerisches Understatement unterminieren. Zum Teufel mit political correctness, mobilisiert den guten Menschen in und um Euch! Die Welt braucht ihn.

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