Niemand braucht auf der Strecke zu bleiben

Letzte Woche war im facebook ein Artikel aus der ZEIT gepostet worden. Titel: Geistig Behinderte sind nicht süss! Eine Frau beklagt den Mangel an elterlicher Aufmerksamkeit und die daraus entstandenen Defizite für ihr weiteres Leben. Sie mag ihren behinderten Bruder nicht besonders, empfindet ihn mehrheitlich als eine Last, auch für die Eltern und schliesst daraus, dass es besser wäre solches „Leben“ zu verhindern. Das ist sehr kurz zusammengefasst und möglicherweise schon durch meine Wahrnehmung gefärbt. Ich nehme das in Kauf.

Auf jeden Fall kam mir schon der Titel ziemlich schräg rein und in mir waren sofort alle Sinne in Aufruhr und auf „Protest“ geschaltet. Ok, man kann nicht immer von sich auf andere schliessen, das wäre wirklich zu einfach und ungerecht. Zudem hat jeder Mensch das Recht auf seine Gefühle und gerade als psychologische Beraterin bin ich der Ueberzeugung, dass diese im einzelnen Fall immer auch gerechtfertigt sind und durchaus ernst genommen und wertgeschätzt werden müssen. Wenn aber die Erfahrung einer einzelnen Person sie dazu veranlasst, etwas zu behaupten und daraus einen Schluss zu ziehen, der eine existentielle Tragweite hat, dann muss ich ich mich einmischen. Zuerst einmal: behinderte Menschen können auch sehr süss sein, wenn man sich überhaupt dieses Vokabulars bedienen möchte. Meine Tochter war ein wirklich zuckersüsses kleines Mädchen und ist unterdessen eine hübsche junge Frau mit Down Syndrom. Erst vor Kurzem hat mich ihr mittlerweile 23jähriger Bruder daran erinnert wie „herzig“ unsere Annina doch war. Es gibt sicher auch Leute, denen solche Adjektive für Kinder total schräg reinkommen und die heftig protestieren, findet man ihr Normalokind süss oder schnucklig, herzig, Zucker. Die Verniedlichung wird prinzipiell aufs Schärfste abgewiesen. Allerdings neigen wir Menschen doch gerne dazu, uns liebe Menschen und Haustiere mit Koseworten im Diminutiv verbal zu streicheln. Wenn nicht total übertrieben, finde ich das wirklich süss!

Nun, eigentlich ist das nur am Rande wichtig, ging es doch eigentlich um das Leiden von Geschwistern geistig Behinderter. Die Geschwister sind ein sehr wichtiges, nicht zu vernachlässigendes Thema in diesem ganzen Kontext. Das möchte ich wirklich vehement betonen, und es sollte von Eltern mit viel Sorgfalt und Achtsamkeit behandelt werden.

Meine Tochter hat einen Zwillingsbruder – welch ein Geschenk für sie, die sehr vieles durch Nachahmung gelernt hat. Ihr drei Jahre älterer Bruder war ein zusätzlicher Antrieb. Annina war immer hinter den beiden Jungs her und hat alles probiert, was die Zwei angestellt haben. Oft blieb sie zurück, weil sie einfach zu langsam war. Aber sie war auch oft irgendwie dabei beim Spiel ihrer Brüder. Wenn die aber nicht wollten, haben sie sich aus dem Staub gemacht und ihre Schwester sich selbst oder dann mir überlassen. Das war soweit ok, für Annina und auch für mich.

Ich kenne Berichte von Betroffenen, die immer Rücksicht nehmen mussten auf ihre Geschwister und die darunter gelitten haben. Viele dieser Betroffenen lieben ihre Geschwister trotzdem und würden die Erfahrungen, die sie mit ihnen machen durften nicht missen wollen.

Es wäre wohl unfair, derer nicht zu gedenken, die mehr gelitten als sich gefreut haben und auch hier treffen wir auf ernst zu nehmende Schicksale. Es liegt mir fern zu urteilen. Aber, ja jetzt kommt mein Aber, das sich doch beim Lesen dieses besagten Artikels sehr schnell und laut aufgebaut hat und ich möchte es mir nicht nehmen lassen es äussern zu dürfen: Mit der Aufgabe ein spezielles Kind grosszuziehen kann verschieden umgegangen werden. Eltern haben ihren Kindern gegenüber eine Verantwortung – all ihren Kindern gegenüber! Ich bin mir sicher, dass damit verschieden umgegangen werden kann und individuell auf die Familie und auch auf die Art der Behinderung abgestimmt werden muss. In unserem Fall war es möglich, dass jedes Kind sein Eigenleben führen durfte. Vielleicht hat sich mein Grosser benachteiligt gefühlt, weil er gerade durch zwei Geschwister, im Doppelpack, entthront wurde. Aber beide Jungs haben sich nie wegen ihrer behinderten Schwester benachteiligt gefühlt, im Gegenteil. Man kann es mir glauben, ich habe sie viele Male gefragt. Einmal wollte ich sie an einen Themenabend für Geschwister von Behinderten schleppen. Sie haben mich nur ausgelacht und meinten, sie hätten damit kein Problem und müssten jetzt auch keins mehr daraus machen.

Mir persönlich war und ist es ein Anliegen, meine Kinder zu selbständigen und selber denkenden Menschen zu erziehen. Auch meine Tochter mit Down Syndrom kann mit ihren zwanzig Jahren vieles alleine. In einigen Bereichen braucht sie Unterstützung. Die bekommt sie. Dass sie ihr ganzes Leben zusammen mit den Eltern zuhause verbringt, das kann ich mir nicht vorstellen. Die Gefahr besteht, dass man solche Menschen gerne an sich bindet. Dafür gibt es wohl verschiedene Gründe, die mir alle in eine ähnliche Richtung zu zeigen scheinen. Mütter können nicht aufhören zu bemuttern, wollen nicht alleine sein, Söhne ersetzen den verstorbenen oder abhanden gekommenen Partner, nur Eltern wissen wirklich, was für ihr Kind gut ist etc, etc.

Wenn wir nicht loslassen können belasten wir nicht nur unsere speziellen Kinder, sondern eben auch deren Geschwister. Lange Rede, kurzer Sinn: die Schuld dafür kann nicht bei den beeinträchtigten Geschwistern zu suchen sein – falls überhaupt – und die Lösung kann nicht darin liegen, solche zukünftig zu verhindern.

Die Anforderungen, die ein Familienleben mit einem geistig behinderten Kind stellt, sind mannigfaltig, aber aus meiner Erfahrung heraus zu bewältigen, wenn man bereit ist, sich der Situation zu stellen und flexibel zu reagieren. Hält man stur an alten Mustern fest, wird es in der Tat schwierig.

Ich behaupte nicht, dass es einfach ist, aber es kann für alle zur Bereicherung werden und niemand braucht dabei auf der Strecke zu bleiben.

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