Die Ruhe war von kurzer Dauer. Heute war wieder einmal kein guter Morgen für Annina, schlecht geschlafen, die Kollegin krank, ein schlechter Traum? Wissen wir’s, wenn sie sich nicht äussert. Aber auch meine Tochter und auch wenn sie speziell ist, muss sich in gewisse Dinge schicken – ja muss sie wohl. Auch sie müsste trotz Müdigkeit oder Unlust arbeiten, müsste sich ins Team einfügen, müsste den inneren Schweinehund kürzer an die Leine nehmen, dass er schön bei Fuss geht an diesem schwierigen Tagesanfang. Das tut sie aber nicht. Nein, sie lässt ihn von der Leine und er haut ab und sie? Nichts wie hinterher, ganz dem Moment verhaftet, dem Fluchttrieb folgend. „Heute ist mir nicht danach, also schnell weg hier!“
Das war gestern. Was folgte? Geht-gar-nicht-Ausrufe auf allen Seiten, auch von mir. Annina weint, bockt, verspricht einmal mehr Besserung, weil ich drohe die Ferien zu streichen. Der Ausbildner und der Betreuer beschliessen eigene Massnahmen, nämlich ein Timeout zuhause bei der nächsten Flucht. Ich weiss nicht mehr mehr, wo mir der Kopf steht. Wie soll das funktionieren? Ich kämpfe an mehreren Fronten und stelle mir entsprechend viele Fragen von Fall zu Fall, von Massnahme zu Massnahme, bin nur noch am Prüfen und mein Bauch ist ziemlich ratlos, manchmal auch müde. Ich weiss, sie muss es lernen, nicht immer davonzulaufen bei der geringsten Unstimmigkeit und ich weiss, dass ich die Konsequenzen aushalten muss.
Da stehe ich mit meiner Verantwortung als Mutter, meiner Aufgabe als Beiständin für meine Tochter die möglichst beste Lösung zu erwirken. Sie sabotiert sie immer wieder, und im Hintergrund reite ich gegen väterliche Windmühlen.
Ich lasse mich beschimpfen, Drohungen und Befehle donnern auf mich ein. Ich versuche zu erklären, poche auf Vernunft, dann auf unsere Pflicht, schliesslich auf meine Rechte und Befugnisse.
Wie ich mit der ewigen Anfeindung klar kommen soll, wie und wo ich sie verarbeiten kann, wie ich den ewigen Kreislauf der Gewalt unterbrechen kann ist mir schleierhaft. Das Wohl meiner Tochter steht an erster Stelle und darum reite ich weiter, wenn es sein muss gegen Windmühlen.