Zugegeben, meine Betrachtungen über meine Tochter und das Loslassen drehten schon in der Wiederholungsschlaufe und es wurde langsam langweilig, so wenig gab es zu berichten. Annina ging schön brav ihrem Schoggijob nach und ich erwog neue Themen für meinen Blog.
Doch unterschätzt meine Tochter nicht!
Gestern um halb sechs kam der Anruf. Ich war mit meinem Mann auf einer kleinen abendlichen Biketour. Verzückt radelte ich durch die sonnige Frühlingslandschaft. Saftgrüne Fettwiesen zogen an mir vorüber, beblüht von gelbem Löwenzahn, die Obstbäume standen in ihrer vollen Blütenpracht, eine Biene setzte sich kurzfristig auf meinen Oberschenkel und radelte mit, der Wald war eingehüllt in diese hellgrüne Wolke frisch spriessender Buchenblätter und das Leben fühlte sich frisch und leicht an.
Da klingelte mein Handy aus dem Rücksack!
„Ich muss es wohl abhnehmen. Vielleicht ist es Annina auf dem Heimweg, die mir etwas erzählen will“, denke ich und klaube das Teil aus meinem Rücksack.
Sie ist es nicht, aber um sie geht’s.
Eine Betreuerin von der Wohngruppe hat vom Züriwerk die Meldung erhalten, dass Annina nach dem Mittagessen nicht mehr zur Arbeit erschienen ist. Wo sie ist, weiss niemand, denn sie nimmt ihr Handy nicht ab.
Es ist ja auch ein zu schöner Tag, auch für einen Schoggijob und wenn dann noch jemand nervt! Da gibt’s nur eines – abhauen! So reime ich mir das spontan zusammen. Ich schau nochmals auf meine Uhr. Sie muss also schon seit fünf bis sechs Stunden alleine irgendwo in der Stadt herumhängen. Für sie nicht unbedingt eine Strafe, im Gegenteil. Sie wird wieder einmal die grosse Freiheit schnuppern und wenn nicht etwas ganz Blödes passiert, findet sie sich gut zurecht in Zürich. Das kann sie, obwohl sie auf dem Land aufgewachsen ist und ich meine wirklich auf dem Land.
Ich frage mich noch, warum die das mir eigentlich erst jetzt melden und versuche meine Tochter anzurufen, kann ja sein, dass sie abnimmt. Tut sie auch und ist extrem gut drauf. Sie sei schon auf dem Weg in die Stöckenweid. Alles gut gelaufen! Ein Geständnis gibt’s nicht, nur ein paar nicht ganz schlüssige Erklärungen wie, sie hätte ihren Abgang gemeldet, sei mit der Arbeit fertig gewesen und der Bürochef habe gesagt es sei ok. Wer auch immer das sein soll!? Kein Bewusstsein für Fehlverhalten, kein Bedauern! Ich habe natürlich nachgebohrt. Sie soll mich nicht anlügen. „Mamiiiii…..“. Ich nerve. Klar!
Trotzdem, einfach abhauen geht nicht, auch wenn ich mich innerlich schüttle vor Lachen und auch vor Stolz über ihre Selbständigkeit. Mein Mann grinst, wenn auch kopfschüttelnd, vor sich hin. Geht ja gar nicht. Das gibt wieder eine Menge Schwierigkeiten.
Die finale Ausrede ist: Ich hatte Bauchweh, darum bin ich ans Bellevue gegangen und habe mich da auf dem Platz hingelegt.
Ich kann nicht mehr, muss mich wirklich zusammenreissen, dass ich nicht laut herauspruste, mein Bester gluckst und krümmt sich vor Lachen über die Lenkstange.
Warum bin ich nicht eher drauf gekommen. Ich mein, das Bellevue bietet sich doch an in einer solchen Situation, ideal um sich hinzulegen bei Bauchschmerzen! Zudem war sie vor Weihnachten auch mal dort, hat sich stundenlang unter den grossen Weihnachtsbaum gesetzt und mit Passanten gequatscht. Dort hat es viele Jugendliche der umliegenden Mittelschule oder Studenten von der Uni, die da Mittagessen, ihre Hausaufgaben besprechen und die Sonne geniessen. Voll spannend, da findet Leben statt, da will Annina sein.
Das kann ich so gut verstehen.
Das darf ich ihr wohl nicht sagen. Auch nicht wie eigenständig und stark ich sie finde, wie ich sie sogar beneide, dass sie sich solches herausnimmt, was ich in ihrem Alter oft nicht gewagt habe.
Ich reiss mich zusammen, bleibe ernst und vernünftig. Ich bin ja die Mutter. „Annina, das geht einfach nicht. Du kannst nicht einfach gehen, wenn es Dir gerade passt.“ „Mamiiiii…..“
Trotzden wird und muss es Konsequenzen haben. Das ist ja klar. Welche wird sich zeigen.
Aber stark ist sie, meine Tochter!