Abschlussgespräch im Hora. Ich bin froh habe ich Anninas Beiständin an meiner Seite oder stehe ich ihr zur Seite oder gehen wir Schulter an Schulter dahin. Wie auch immer sie das auch sehen würde. Die Verantwortung liegt nicht mehr alleine bei mir. Ich habe den Eindruck, wir zwei Frauen blicken in dieselbe Richtung, teilen ähnliche Menschen-Welt-Bilder und sind uns philosophisch nah. Das Loslassen wird nun belohnt.
Ich lehne mich bei dem Gespräch also vorerst ein wenig zurück, höre zu, beobachte. Ich bin als Mutter dabei.
Frau P. möchte für meine Tochter einen guten Abschluss finden und dafür gerne hören, wo ihre Stärken sind, was sie gut gemacht hat in diesem Jahr beim Theater. Während sie ihre Absicht schildert und die Überzeugung, dass es sicher einiges Gutes und Tolles zu berichten gibt, hellt sich Anninas Gesicht auf. Ein freudiges Lachen breitet sich darin aus und auch mir wird warm ums Herz bei dem Gedanken. Ich freue mich darauf Gutes und Schönes über meine geliebte Tochter zu hören. Die Kraft positiver Zuwendung wird in diesem kurzen Moment so klar ersichtlich und auch die Möglichkeiten, was damit erreicht werden kann. Die Ressourcen sehen, sie benennen und damit auch die Motivation und Freude herauskitzeln, darum sollte es gehen.
Leider schwindet Anninas Lachen so schnell aus ihrem Gesicht, wie es kam, denn es ist ihrem Ausbildungsleiter unmöglich auch nur etwas Positives über sie zu erzählen. Er fängt an zu sprechen und jeder Satz verdreht sich sofort ins Negative.
Es ist völliger Schwachsinn, dass es da nichts zu erwähnen gibt. Über jeden Menschen gibt es Gutes zu berichten. Schon oft wurde über Anninas soziale Kompetenzen, über ihr gewinnendes, fröhliches Wesen und auch über ihren Humor gesprochen und das nicht nur von mir, ihrer Mutter. Die Liste liesse sich beliebig erweitern. Ich habe sie auch einige Male bei den Proben gesehen und fand immer, dass sie auch gute kreative Kompetenzen besitzt, aber ok, da bin ich vielleicht halt Mutter.
Nun, Frau P. beharrt auf ihrer Frage, will jetzt wirklich nichts hören von all den begangenen Fehlern und Regelbrüchen, denn darüber wissen wir Bescheid, darum gibt es kein zweites Jahr bei Hora.
Aber wo sind denn die Ressourcen?
Ja, eigentlich hat Annina gut angefangen, aber dann wurde es schwierig, weil…….. und dann nach der schlechten Phase vor Weihnachten, hat sie es wieder gut mitgemacht bis..…… Was bedeutet denn gut mitgemacht? Sie hat sich selbstmotiviert eingebracht, wollte von sich aus auf die Bühne. Und wie äusserte sich das? Wie muss man sich die Proben vorstellen mit ihr? Wie hat sie sich eingebracht? Sie hat sich selbst eingebracht. Er kann tatsächlich kein Beispiel nennen, scheint in die Enge getrieben, wechselt auf eine intellektuelle Ebene, die ich gut kenne, auf der ich mich auch schon verführen und verwirren liess. Doch Frau Beiständin lässt nicht locker, nimmt wieder Abstand vom Negativen, will wie bei jedem beruflichen Einstellungs- oder Abschlussgespräch auf die Stärken zu sprechen kommen und sieht sich dann auch verwickelt ins theoretische Netz. Ich melde mich dann doch noch und gebe meinem traurigen Bauchgefühl beim Anblick meiner geknickten Tochter Ausdruck sowie meinem Wunsch auch gerne etwas Gutes zu hören. Wahrlich, ich könnte heulen und meine Stimme zittert. Es ist mir egal, ich bin jetzt Mutter. Doch ich werde missverstanden, ernte Vorwürfe und gebe schnell wieder ab. Zu viel Zeit habe ich schon „verdiskutiert“. Frau P. hat den Griffel fest in der Hand, bereit wenigstens ein paar Punkte einzufordern und sie schriftlich festzuhalten.
Doch wir kommen nicht weiter, bleiben stecken im Erklärmodus und können für meine Tochter kein Wort des Lobes oder der Anerkennung herauskitzeln. Die Regeln wurden nicht befolgt und dieses Vergehen wiegt zu schwer. Der Widerstand, eine wichtige Entwicklungskompetenz hat im Hora keinen Platz und wird – so scheint es mir – als persönlicher Angriff missdeutet. Der Versuch pädagogische Werte als Argument einzuführen bleibt ungehört und scheitert ebenso. Wir sind Frauen, sprechen Gefühle an. Er blockt ab. Hat er keinen Zugang zu den eigenen?
Und schon haben wir wieder über eine Stunde „verbraten“. Frau P. drängt auf einen Abschluss. Wir geben auf. Zuletzt bringt sie ihre eigene Trauer darüber zum Ausdruck, dass es nicht gelungen ist, für Annina dieses Abschlusspaket positiv zu schnüren. Annina findet, es sei schon ok so. Sie sagt, sie will nicht, dass jemand traurig ist, muss dann aber in meiner Umarmung doch weinen. Sie sagt weil sie ihren Opa vermisst. Er ist ein Stellvertreter, sie hat ihn nie gekannt. Der Ausgang des Gespräches ist für sie: Scho guet!
Nach einem wertschätzenden Diskurs über die individuelle Wahrnehmung jedes Menschen inklusive Würdigung seiner Arbeit verabschieden sich Frau P. und ich vom „Horachef“ und gehen.
„Jetzt muss ich eine rauchen!“ sagt sie sobald wir draussen sind. Auch für mich ist das einer dieser Momente, wo ich zur Zigarette greife um den Stress wegzublasen. Wir schütteln die Köpfe und ich fühle mich einmal mehr darin bestätigt, dass ich auf meine Intuition hören muss. Die Zweifel an mir und meiner Wahrnehmung, das Hin und Her, das Abwägen ob ich wirklich „richtig“ fühle, könnte ich mir des öfteren sparen!
Und ganz klar wird meine Überzeugung, dass in der Ausbildung von und in der Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigung Akzeptanz, Empathie und vor allem liebende Güte unabdingbar sind.
Dies sind Eigenschaften die jeden zwischenmenschlichen Kontakt prägen sollten.
Ein Wunschtraum? Vielleicht! Aber sicher ein Ziel.
Es kann nur erreicht werden, wenn man sich selber nah ist.