Annina hatte gestern ihren zwanzigsten Geburtstag. Trotzdem habe ich sie am Morgen ins Hora bugsiert, obwohl sie nicht wollte. Ich habe sie an einem für sie so bedeutungsvollen Tag zu etwas gezwungen, dass für sie immer traumatischer zu werden scheint. Sie wollte auch nur zuschauen, nicht spielen. Mit ihrem Ausbildungsleiter habe ich dann wieder eine halbe Stunde gesprochen. Er vertritt die Meinung, dass sie sobald sie keine Lust hat abhängt, zumacht, gar alles verweigert und dass sie lernen muss zu müssen, durchzuhalten und dass sie ihre Ausbildung abschliessen sollte. Er gibt ihr diese Chance und ich bin so dankbar und bemüht.
Und wenn es nicht geht? Schleife ich sie dann in Ketten ins Theater? Wie bewerkstelligen wird das oder ihre Betreuer in der Stöckenweid. Wie gehen wir damit um, dass sie dann nur noch bockt und weint und ihre so bestechende Lebensfreude und Fröhlichkeit verloren geht? Wer übernimmt die Verantwortung, wenn sie abhaut – wie auch schon geschehen vor Weihnachten – und irgendwo in der Stadt herumlungert? Brechen wir sie mit unseren Forderungen?
Meine bisher freihlassende Haltung soll zu offen gewesen sein und Liebe und Empathie soll auf die hintern Plätze verwiesen werden. Ueber ihren Kopf hinweg soll ich entscheiden, was sie jetzt zu tun hat, denn sie kann nicht entscheiden und soll es jetzt lernen, sonst lernt sie’s nimmermehr, das Verhalten von Normalos, zu denen sie doch nicht gehören kann, weil sie ein Down Syndrom hat. Sie kann nicht so gut reflektieren und doch wird von ihr erwartet, dass sie ihre Beweggründe darlegt. Sie kann sich nicht so gut verbal ausdrücken, und doch wird sie traktiert mit Worten um ihr beizubringen, sich zu erklären. …. und ich lasse es zu, habe Angst, dass sie sich die tolle Chance auf eine Theaterkarriere verbaut, die einzige Möglichkeit für jemanden wie sie, kreativ zu arbeiten, bin verunsichert durch die vielen gegensätzlichen Argumente und meine eigene Hochachtung vor dem Metier. Ich meine einmal mehr, dass Annina froh sein muss, eine solche Chance zu haben und lasse ausser Acht, dass auch das Hora eigene Interessen vertritt. Es wird immer abgerechnet! Darum will man sie trotzdem behalten, mitziehen, obwohl sie ja immer stört und so nervt. So behandelt man sie auf jeden Fall. Diese Ambivalenz hat mich konfus gemacht und ich konnte sie nicht entschlüsseln und wie immer in diesem mir vertrauten Muster, beginne ich an mir zu zweifeln. Ich habe sie falsch erzogen. Die Integration, das Vertrauen auf Anninas Selbständigkeit und auf ihre Fähgikeiten, alles falsch. Wirklich?
Disziplin, Durchhalten, Regeln, Konsequenz – durchaus bestechende Argumente – versus meine Mutterliebe, mein Mitgefühl, meine Lebensauffassung, mein Weltbild vom möglichst selbstbestimmten Menschen. Kann sie sich so zur Blüte bringen? Bedeutet Schauspielerin sein für Annina dasselbe wie für mich. Bedeutet es ihr überhaupt etwas oder nur mir? Wenn sie wünschen könnte, möchte sie Sängerin werden. Geht nicht! Will sie immer dann nicht mehr, wenn es schwierig ist? Auch möglich. War ich auch so in jungen Jahren? Hat sie das von mir?
Was zählt?
Endlose Gespräche, abgründiges Hintersinnen, Konfrontation mit meinen eigenen Traumata, Angst, dass auch ich meine Tochter im Stich lasse, nicht zu ihr stehe, ihr meine eigenen Wünsche und Ansichten aufdrücke, Ungewissheit des Weges, den sie zurücklegen wird, überhaupt zurücklegen kann. Wie ich es drehe und wende, ich werde entscheiden – müssen, für sie und zu ihrem Besten. Eine grosse Macht und Verantwortung.
Beim Kerzenausblasen wünscht sie sich ganz fest, dass sie am nächsten Morgen nicht ins Hora muss.
Abbuch! Ob wir von der IV noch eine zweite Ausbildung zugesprochen bekommen, ist nicht sicher. Es gibt verschiedene Szenarien. Wieder einmal lege ich meine Liebe in die Waagschale gegen die Argumente der Folgerichtigkeit vom konsequenten Handeln und hoffe einen guten Weg zu finden. Ohne Liebe kann man nicht auf der Bühne stehen.