Wie würde sie entscheiden?

Wie würde sie entscheiden, wenn sie kein Down Syndrom hätte?

Das bleibt die Prüfung vor jedem Schritt. Doch ist diese Frage schlüssig zu beantworten? Ich kenne meine Tochter. Aber wie gut kann ich sie wirklich kennen, die ihre Gedanken kaum klar darlegen kann und sich nur schwach für eigene Anliegen einzusetzen vermag?

Kenne ich auch den bald erwachsenen Menschen in ihr oder stütze ich mich auf die scheinbar gesicherten Wahrnehmungen des Kindes? Die geistigen und sprachlichen Barrieren erschweren die Kommunikation und somit wohl auch das Verständnis. Meine Wahrnehmung kann niemals die meiner Tochter sein und das ist die Crux der Beeinträchtigung: immer werde ich nach eigenem Gutdünken entscheiden müssen, nicht nach dem ihren.

Wenn sich Annina zuhause in ihrem Zimmer einschliesst mit Youtube-Begleitung die angesagtesten Hits in ihr Mikrofon röhrt, ein Hiphop-Cap auf dem Kopf und einen Energy-Drink in der Hand, dann fühlt sie sich als Superstar und ihre Träume fliegen so frei, wie der Schnellzug durch den Bahnhof Wädenswil. Doch diese Freiheiten sind nicht uneingeschränkt, weil ihr der Umgang fehlt und das Mass. Genau dafür bin ich dann zuständig und all die anderen, die sich Betreuungspersonen nennen. Sie wissen, dass Regeln wichtig sind und nötig im sozialen Gefüge. Doch hat meine Tochter die Chance sich dagegen aufzulehnen, sie alle zu missachten, sich die Haare blau zu färben, rotzfrech zu sein, Shit zu rauchen und Erwachsene anzupöbeln? Kann sie aus dem Fenster steigen und verbotenerweise in die Disco gehen? Kann sie all die verbotenen Dinge tun anhand derer wir Normalos uns abgenabelt haben. In Tat und Wahrheit hat sie nur beschränkte Möglichkeiten. Sie darf nicht einmal Mofafahren und sobald sie sich verweigert, sind alle sehr erstaunt und es müssen dringend Massnahmen getroffen werden.

Schlussendlich entscheiden kann und darf sie nicht, das tun andere für sie und wenn sie Glück hat, dann versuchen wir das in ihrem Sinne zu tun. Mehr ist wohl nicht möglich. Verantwortungsbewusst handeln heisst in diesem Fall, das Unvermögen mit dem eigenen Vermögen aufzufüllen, eine Mutterpflicht, die bei Annina Zeit ihres Lebens erfüllt werden muss. Erst jetzt wird mir die volle Tragweite bewusst. Lange habe ich mich mit meiner Vision vom normalen Leben über Wasser gehalten.

Welches Leben ist normal? Jedes Leben ist aussergewöhnlich.

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