Abschied

Abschiednehmen ist schwer. Einen Menschen endgültig loszulassen noch viel schwerer. Der Tod ist die grösste Kränkung des Menschen, der mächtigste Angstauslöser, die Endgültigkeit per se.

Wie wir damit umgehen hängt mit unserem kulturellen, spirituellen und vor allem persönlichen Hintergrund zusammen. Mit zunehmendem Alter scheint mir der Gedanke an das Vergehen erträglicher – nie wollte ich ewig leben – und manchmal verstehe ich schon, dass der Tod eine Erlösung sein kann. Und obwohl gerade dies bei meiner Mutter, die uns kürzlich verlassen hat der Fall war, ist die Unumkehrbarkeit, die Endgültigkeit doch schneidend schmerzlich und das WAR und das NIE MEHR lassen mich immer wieder und wieder in eine dunkle Mauer torkeln. Selber Mutter, Tante, schon Stiefgrossmutter!, bin ich doch immer noch Tochter. Mit dem Tod meiner Mutter ist mir mein Ursprung entrissen. Die Möglichkeit meine Beziehung dazu noch zu verändern, zu überdenken allenfalls, zu verbessern, zu vertiefen oder gar zu geniessen, habe ich verloren. Was auch immer noch offen war, was noch getan werden wollte oder musste, was noch schön gewesen wäre wieder einmal zusammen zu erleben wie auch all das nicht mehr Mögliche, beides wird eingefroren, verliert jegliche Perspektive und bewegt doch die Gedanken und Gefühle auf eindringlichste Weise.

Ich weiss, dass es gut ist. Wir haben uns in Frieden und Liebe verabschiedet. Auch die Enkel konnten Adieu sagen.

Doch irgendwo in dunklen Ecken stehen Konflikte und daraus entstandener Schmerz und werfen mir jetzt die Schuldfetzen vor die Füsse. Beziehungsgeschichten, Unausgesprochenes und Missverstehen werden in Familien geboren und ausgetragen. Sie gehören zu menschlicher Entwicklung und Wachstum und sind wichtig für die Ablösung eines jungen Menschen vom Stamm. Da ist ja auch viel Schönes, zusammen Erlebtes, als Kind Erfahrenes, Prägendes, Gutes, das immer bleibt…… und doch…. Hätte ich dieses nicht gesagt und jenes nicht geschrieben, solches gelassen und anderes getan!

Hätte man nicht noch mehr? Wieder einmal? Nur noch einmal? Das kleine Kind in mir will nicht loslassen, hat immer noch nicht genug, will nicht verstehen. Und es macht sich Vorwürfe, denn da ist niemand mehr sonst, dem man sie machen könnte, mit dem man sich auseinandersetzen kann.

Vielleicht ist man irgendwann zu müde, zu müde für Diskussionen, zu müde um noch Feste zu feiern, zu erschöpft um lange Gespräche zu führen, selbst zu müde um zu lesen. Das Leben ist nur noch schwer, zu schwer. Der Abschied vom Leben dauert Jahre. Immer weniger ist möglich und die schönen Erinnerungen beziehen sich auf weiter zurück liegende Ereignisse. Das Leben, dieses geliebte, so intensiv inhalierte Leben, hat nichts mehr zu bieten.

Dann ist es Zeit!

Alles hat seine Zeit, alles hat sein Tempo, alles hat Gefühle, die dazu gehören. Irgendwann ist das Paket eines Erdenlebens geschnürt, die Erinnerungen gebündelt. Nichts kommt mehr dazu, nicht in diesem Leben. 

Nie mehr wird mich meine Mutter an meinem Geburtstag morgens anrufen und sagen: „In einer Viertelstunde kommst Du zur Welt.“ Sie hat es schon die letzten zwei Jahre nicht mehr getan, aber da war sie doch noch irgendwie am Leben. Sie war noch da! Jetzt ist sie gegangen. Erde zu Erde, Staub zu Staub. Die Urmutter hat ihren Schoss geöffnet und sie in die ewige Ruhe gebettet. Kampf und Sturm um Hell und Dunkel sind verebbt.

Das schönste Licht soll nun für sie leuchten.

Wir alle leben weiter. Wir Töchter trösten uns gegenseitig und den Vater, wir Mütter stärken und trösten die Kinder. Wir besinnen uns darauf, was wirklich zählt und begraben unsere Missverständnisse. Mit neuer Zuversicht schauen wir auf neue Tage – alles geht vorbei, auch die Trauer – und schöpfen aus unserem Erbe. Es ist Liebe, Liebe zur Natur, zu den Elementen, zu den Menschen und dem Leben. Sie verwebt uns auf ewig miteinander, über alle Endlichkeit hinaus. In der Liebe sind wir alle eins.

Aber wenn es Abend wird und die Gefühlsschleier dünn und durchlässig werden, fehlt sie mir – meine Mutter!

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