Menschen mit Down Syndrom sind heutzutage Kunstturner, Schauspieler, Künstler, Fotomodels, Tänzer, führen durch Ausstellungen, ja sind sogar Gegenstand von Ausstellungen in grossen Museen. Sie arbeiten in Coiffeure-Betrieben, in Restaurantküchen oder haben sogar ein eigenes Business. Ach, und dann gibt es noch diesen Spanier, der sogar die Uni besucht und in einem vielbeachteten Spielfilm mitgespielt hat.
Da man möchte, dass auch dem eigenen Kind alle Türen offen stehen und in Anbetracht obiger Meldungen kommt man auf Gedanken wie: „Das kann meine Tochter auch“.
Auch ich habe eine Vision für meine Tochter. Sie soll ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben führen. Auch ihr soll die Berufswelt offen stehen, auch sie soll werden, was sie möchte. Mit ein wenig zusätzlicher Förderung sollte das zu machen sein. Doch ihre Chancen, die muss sie jetzt nutzen.
Und so setze ich mich, sie, uns, immer wieder unter Druck.
Jetzt, wo Menschen mit Down Syndrom – falls sie den Weg ins Leben überhaupt überleben – wahrgenommen werden als Menschen mit durchaus wertzuschätzenden Fähigkeit, jetzt sollen sie diese doch auch sinnvoll einsetzen, ihre Chancen nutzen und etwas aus sich machen!
Dass mein Kind integriert werden kann in die Gesellschaft war für mich von Anfang an DER Strohhalm, an dem ich mich sofort festklammerte und an dem ich mich hochhangelte. Mein Kind sollte auch integriert werden in den Bereich, der uns Schweizern so unglaublich wichtig ist, in die Berufswelt. All diese Berichte von gelungenen Integrationsprojekten – heute nennt man es ja Inklusion – habe ich verschlungen. Diese Zeugnisse von erfolgreichen Lebensläufen von Menschen mit Trisomie 21 sind mein Masstab, genauso wie ich mir für mein eigenes Leben die Latte immer ziemlich hochstecke und mir aussergewöhnlich begabte und erfolgreiche Menschen zum Vorbild nehme. Natürlich kann ich das für meine Tochter auch tun und es als schönes Indiz dafür sehen, wieviel ich ihr zutraue. Aber eigentlich habe ich mich selber schon immer wieder mal damit überfordert und sie sowieso.
Jede und jeder, der selber Kinder hat, weiss, dass solche Rechnungen selten aufgehen. Wieso sollte es sich mit unseren speziellen Kindern anders verhalten? Zudem kommt der Verdacht auf, dass das spezielle Kind etwas Besonderes erreichen soll, gerade weil es speziell ist und in den Augen vieler für unfähig gehalten wird!
Als Frau und als Mutter sollte man es sowieso besser wissen, müssen wir doch immer noch viel besser sein als die Männer und oft auch noch Karriere und Familie unter einen Hut bringen um gerade mal annähernd gleiche Rechte wie die Männer zu erhalten. Muss sich jetzt auch noch die Tochter mit Down Syndrom speziell beweisen?
Pushen geht nicht. Meine Tochter jedenfalls widersetzt sich jeglichen Förderungsversuchen standhaft, vor allem seit sie erwachsen ist und dabei doch schon ein gewisses Gefühl für Eigenständigkeit entwickelt hat. Dieses orientiert sich allerdings vor allem an ihrem Lustprinzip und weniger an dem Motto: Wer selbst entscheiden will, muss auch die Verantwortung dafür übernehmen.
Also, was kann und soll ich, als Mutter noch beeinflussen? Irgendwann liegt ihr Leben doch auch – wenigstens zu einem Teil – in ihrer Hand. … und es ist durchaus möglich, dass sie nicht die Bühnen der Welt bespielen will, dass sie keine Kunstturnermedaille gewinnen, kein Buch schreiben und kein Restaurant führen will.
Viel lieber will sie chillen, es gemütlich haben mit Freunden, feiern, lachen und eine gute Zeit haben. Arbeiten findet sie mühsam, an irgendeinem spannenden Projekt mit anderen speziellen Menschen will sie nicht mitarbeiten, und für tolle Fotos will sie auch nicht Modell stehen.
Wenn ich hier so aufzähle, was meine Tochter alles nicht will, dann tönt das irgendwie beleidigt und mir wird bewusst, dass ich wohl hinter meine Bücher muss – einmal mehr. Meine Ambitionen sind nicht ihre. Meine Vorstellungen von „etwas aus seinem Leben machen“ auch nicht. Vielleicht braucht sie auch noch Zeit um überhaupt herauszufinden, was sie möchte. Oder vielleicht ist sie einfach zufrieden mit ihrer Tätigkeit und ihrem Wohnplatz in der Stiftung und will momentan einfach nicht mehr und nichts anderes.
Einmal mehr lerne ich, meine eigenen Erwartungen nicht auf Andere zu übertragen, meine Tochter ihre eigenen Entscheidungen fällen zu lassen und auch zuzulassen, dass sie vielleicht gar keine Entscheidungen fällen will, sondern alles gut und bequem findet, wie es ist. Eine weitere Lektion vom Leben in Sachen Vertrauen und Loslassen!
Wenn das Leben geniessen so gut es geht nicht das wichtigste ist – was dann?