Die Woche mit Annina in den Bergen ist um.
Wir sind Ski gefahren, waren laufen, in der Therme Vals baden und in Chur lädelen. Die ganze Zeit über habe ich versucht mit ihr im Gespräch zu bleiben. Mir scheints vergeblich. Es gibt kein wirkliches Gespräch zwischen uns, sondern nur mich, die ich ihr Vorhaltungen mache oder sie bequatsche und Annina, die auf meine Multiple-Choice-Fragen mit ja oder nein antwortet. Manchmal denke ich, dass sie nicht wirklich reflektieren und sich zu einem Thema äussern kann, dass sie vielleicht eingeschränkter ist als ich es wahrhaben möchte. Und dann überrascht sie mich wieder mit einer Assoziation und der folgerichtigen Kombinationen von Informationen. Das geschieht immer dann wenn sie etwas möchte, wenn es ihr nützt. Der persönliche Nutzen ist ja nicht ein schlechter oder verwerflicher Beweggrund. Der eingebaute Spassfaktor auch nicht per se. Leider scheint sie oft einfach zu unmotiviert zu sein, sieht keine Veranlassung dazu sich anzustrengen Zusammenhänge herzustellen und sich auch zu äussern oder Taten folgen zu lassen , die nicht nur mit ihrer persönliche Lustbefriedigung gekoppelt sind.
Aber ich gebe nicht so schnell auf. Ich habe weiterhin gefragt, nach ihren Wünschen und ihren Zielen. Das Schulterzucken ist schon zum Instinkt verkommen.
Sie macht zu, immmer wieder und ich bekomme ein schlechtes Gewissen, weil ich immer in sie dringe, sie bedränge!?
Dann versuche ich wieder sie einfach so sein zu lassen, damit wir die Zeit zusammen geniessen können. Aber meine Angst, dass sie es bei Hora und auch sonst nicht schafft ist da, ist zu gross. Ich will ihr helfen, ihr zeigen, dass es nicht allzu viel braucht, nur dass sie mitarbeitet. Sie will doch erwachsen sein und bleibt in ihrer Verstocktheit so kindlich, beinhahe kleinkindlich.
Auch ihre pubertären Träume von Samu Haber und davon nach Berlin zu gehen und bei Voices of Germany mitzumachen sind ein Aspekt, durchaus verständlich, auch normal.
Die Kleine blickt durch mich hindurch und hört mich gar nicht, will nicht denken. Die grosse zieht sich in ihr Zimmer zurück. Ich spüre Wut, Ungeduld, Hilflosigkeit und auch Schwäche. Ich reite wieder gegen Windmühlen und reibe mich auf.
Der Vater ruft an, pfeift ins Telefon und spricht mit seinem Schätzeli, seiner Prinzessin wie mit einer Zweijährigen, so laut, dass ich es sogar hören kann. Annina wartet ab. Sie traut sich nicht etwas dagegen zu sagen. Sie erzählt es mir nicht. Sie weiss, dass ich reagiere und sie will ihren Vater schützen. Sie steht zwischen uns. Ich will sie in die Erwachsenenwelt führen, er will sie als kleines Kind bei sich behalten. Mir wird schlecht. Wie zerrissen muss sie sich fühlen? Ueberall Ansprüche und Erwartungen. Es wird an verschiedenen Stricken gezogen und alle sind an ihr befestigt.
Annina, das schwächste Glied unserer Familie. Das Kind, das sich nicht selber ablösen kann, dessen Widerstand sofort fremdverwaltet wird und bebeiständet ist. Ich möchte ihr helfen, für sie möglichst viel Freiheit erkämpfen und muss doch einsehen, dass auch dies nur mit Entscheidungen einhergehen kann, die auf meiner eigenen Wahrnehmung beruhen und somit auch einen Uebergriff darstellen.
Zudem sind meine Möglichkeiten beschränkt, von den Institutionen und von der Vaterseite, die auch etwas zu sagen haben will und Einsprache erhebt.
Ich bin bereit abzugeben, loszulassen in der Hoffnung, dass sich eine kompetente Fachperson, neutral und engagiert für Anninas Anliegen einsetzt. Doch ich befürchte, dass auch sie an unserem Familienproblem scheitern könnte. Leidtragende ist immer meine Tochter. Erwachsen werden kann sie so nicht.
Wir sind doch alle nur an ihrem Wohl interessiert!