Da sieht oft keiner hin

Der Missbrauch zeigt sich in vielen Gewändern. War er darum lange ein Tabu? Das Schweigen hüllte ihn ein und machte die Opfer zur leichten Beute und stigmatisierte sie fürs ganze Leben.

Das Schweigen wird mancherorts endlich gebrochen und die Geschichten, die an die Oeffentlichkeit gelangen lassen uns erschaudern, weil es sich zeigt, dass der Missbrauch überall ist und war. Macht wird ausgeübt und die Angst von Kindern, Frauen, sozial, psychisch oder physisch schwächeren Menschen instrumentalisiert um sie gefügig zu machen, zu unterwerfen und zu demütigen. Der Schaden, den die Seele erleidet, ist kaum wieder reparierbar und setzt fatalerweise oft auch wieder Täterenergie frei.

Das Erschreckende ist, dass es uns alle betrifft. So viele Opfer! Und so gross die Scham! So schnell werden wir zu Tätern! Lehrer, Vorgesetzte, Vater, Mutter, Onkel, Heimleiter, Sportlehrer, Ehemänner, die Täterliste liesse sich beliebig fortführen.

Schläge und sexuelle Uebergriffe, physische und sexuelle Gewalt sind schon tausendfach thematisiert. Sie sind die am besten sichtbaren Gewänder des Missbrauchs. Vielleicht weil sich nachweisbare Wunden zeigen, weil blaue Flecken beweisen, was sonst niemand glauben will, was jeder gerne verdrängt. Die seelischen Versehrungen bleiben verborgen und wenn sie sich zeigen, gerne schnell pathologisiert oder eben tabuisiert. Nicht selten werden Opfer der Lüge bezichtigt oder einfach nicht ernst genommen und so ein weiteres Mal missachtet. Angst und Scham sind ein fruchtbarer Boden um darin vergangene Schandtaten zu begraben.

Warum verschliessen wir so gern die Augen? Weil wir alle Täter sind? Viele waren auch Opfer und wollen sich nicht erinnern, weder an den eigenen Schmerz und schon gar nicht an ihre Verfehlungen. So liegt der Mantel des Schweigens über den Dingen, die so vielen passiert sind, als sie Kinder und Jugendliche waren und sich nicht genug und wirksam wehren konnten. Abhängigkeit und Angst waren grösser als die Wut und das Bedürfnis nach Gerechtigkeit.

Angst vor Verlust! Schutzlos zu werden, ohne Liebe oder wenigstens Fürsorge der Eltern, das kann sich ein Kind nicht leisten. Die Unterordnung, oft Resignation und der verzweifelte Versuch sich irgendwie in das vorgegebene System einzufügen, sind die Folgen – eine Seelenvergewaltigung! Niemals fördert solches Eigenständigkeit und Selbstbewusstsein.

Viele fragen sich ein Leben lang, welches denn ihr Weg ist und warum sie sich so oft allein und traurig fühlen, warum dieser Schmerz so tief sitzt und sich nicht löst. Sie sind in gutbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, hatten genug zu essen, geordnete Verhältnisse, durften eine Ausbildung machen und es war doch alles gut. Da war kein sexueller Übergriff und keine Schläge. Na, ja, nur so ein paar kleine und dieser Fusstritt des Vaters, weil die Musik zu laut war und dann diese verbalen Anwürfe, gegen die sie sich nicht wirklich wehren konnten und die mehr schmerzten als alles andere. Sie krümmten sich unter den schweren Erwartungen, die an sie gestellt wurden und die sie nicht zu erfüllen vermochten. Sie haben sich in ihr Fleisch gegraben wie zu eng geschnürte Fesseln. Doch sie hatten es doch gut, alles stand ihnen offen und sie hatten Möglichkeiten, die ihre Väter und Mutter nach dem Krieg nicht hatten. Sie sollten sich dankbar erweisen und sie nutzen.

Doch sie haben auch die Unsicherheit ihrer Vorfahren gespürt und übernommen, ihr Ducken und sich klein machen, die Ängste und das Schweigen über all das Erlebte, worüber niemand reden will. Die alten Traumata schleppen sie als Altlasten mit und gleichzeitig sollten sie sich der neuen, schnellen Welt selbstbewusst stellen.

Nicht wenige scheitern! Die Erwartungen bleiben an ihnen hängen als seelischer Druck, Traurigkeit und Schmerz.

Fremderwartungen sind Zwangsjacken. Kindern Erwartungen überzustülpen und von ihnen deren Erfüllung einzufordern ist eine Form des Missbrauchs. Sie bei Nichterfüllen abzustrafen mit Verachtung ist verbale Gewalt. Diese findet im versteckten Raum statt und hinterlässt keine sichtbaren, körperlichen Spuren, sie kann nicht bewiesen, noch geahndet werden. Oft gibt es dafür auch keine Wiedergutmachung, keine Entschuldigung, die doch im Verzeihungsprozess so wichtig wäre.

Sehr oft sieht da keiner hin. Man sieht ja auch nichts!