Uebergenerationale Prägungen und warum es uns so schwer fällt uns und unseren Kindern den eigenen Weg zuzugestehen

Ich habe mir diese Woche doch noch diesen Film angeschaut, der letzten Sonntagabend als Free-TV-Premiere auf dem Schweizer Fernsehen gezeigt wurde: „Lina“. Thema: fürsorgerischer Freiheitsentzug. Da wurden bis im Jahre 1981 tatsächlich junge Frauen in Anstalten und Gefängnisse „administrativ versorgt“, weil sie „Unzucht“ getrieben hatten oder auch nur „arbeitsscheu“ waren, kurz sich nicht regelkonform benahmen. Was einer Gemeinde sozial „bedrohlich“ werden konnte, wurde schon vorsorglich für eine Weile „entsorgt“ und „umerzogen“. So schloss man, aufmüpfige Jugendliche (übrigens auch Jungs) weg, teilweise in Gefängnisse, zusammen mit Mördern und Verbrechen. Wie schrecklich!

Schwangeren Mädchen wurden nach der Geburt die Kinder weggenommen und zur Adoption freigegeben. Natürlich mussten sie ihr Einverständnis geben, aber der Druck war gross und Gehirnwäschemethoden taten ihr übriges.

Ein restriktives Klima, nicht viel anders als im Mittelalter. Eltern, meist aus sozial minderbemittelten Schichten, stimmten zu, liessen sich instrumentalisieren, stellten sich gegen ihre Kinder, weil man ihnen drohte oder sie es einfach nicht besser wussten, sich nicht wehren konnten oder wollten. Die Anpassung forderte ihren Tribut, der Schutz des Individuums noch nicht im Bewusstsein verankert, der eines Kindes oder Jugendlichen schon gar nicht.

Es schüttelt mich, weil mir bewusst wird, wie auch ich noch – zum Teil wenigstens – in diesem Geiste aufwuchs. Die Angst sass in meiner Familie noch am Tisch, auf den Grosselternrängen – „was wohl die Leute denken!“ –  aber spürbar da und sie hatte ihre Schlingen auch um meine Eltern geflochten, die schon darunter gelitten hatten. Die Forderung nach Anpassung und die Erwartungen waren gross. Nicht, dass mir mit Erziehungsheim gedroht wurde, höchstens mit Internat. Ich habe das mit dem ablösenden Widerstand ziemlich moderat gehalten, die Erwartungen irgendwann nach bestem Wissen und Gewissen zu erfüllen versucht, habe mich höchstens verbal aufgelehnt, was auch nicht viel gebracht hat.

Als Kind sollte man dankbar sein für die Chancen, die einem geboten wurden, ein besseres Leben! Auflehnung und Kritik war diese Generation Eltern noch nicht gewohnt, so kurz nach dem Krieg. Man konnte nicht damit umgehen, sah solches noch nicht als wichtig für die Ablösung und die Entstehung eines eigenen Ichs. Obwohl die Erziehungsratgeber zur antiautoritären Erziehung Hochkonjunktur hatten, war man geprägt durch die autoritären Strukturen und Repressionen, denen man selber ausgesetzt gewesen war.

Dies ist dann auch das entschuldigende Moment. Sie haben es nicht besser gewusst, nicht anders gekonnt.

Das kann aber nicht die Ausrede sein um lebenslang am gleichen Konzept festzuhalten. J

Ein uneheliches Kind z.B. galt damals noch als totale Katastrophe, das Leben ruiniert, Schande über die Familie gebracht. Meine Grosstante nannte solche Kinder noch „unehrlich“ und auch ich spürte diese Angst. Sie hat mich verfolgt und hing als ständige Drohung über mir bis ich endlich einen festen Freund und die Pille hatte. Niemals hätte ich es gewagt ungeschützt Geschlechtsverkehr zu haben. Das war mir sozusagen genetisch eingepflanzt – vielleicht weil ich selber ein solcher Unfall bin.

Meistens musste man dann heiraten um der Schande zu entgehen, auch wenn man sich gar nicht wirklich liebte und nicht zusammenpasste. Manchmal war man nur schon froh, so eine eigene Familie und wenigstens einen kleinen eigenen Handlungsspielraum zu haben. Für eine Frau war eine solche Ehe aber auf Dauer nur schwer verkraftbar, rechtlos und nur auf ihren Haushalt und die Kinder reduziert. Wollte sie ausser Haus arbeiten, brauchte sie die Zustimmung ihres Mannes. Bei einer Trennung benötigte sie ebenso die Unterschrift ihres Mannes um überhaupt eine Wohnung mieten zu können. Bei einer Scheidung wurde die Schuldfrage gestellt und die mit der Heirat vermieden geglaubte Schande holte die Familie ein. Im Film flieht die Mutter nach der Scheidung aus dem Dorf um der Aechtung durch die Dorfbewohner zu entfliehen.

Darum hielt man oft durch, um solches zu vermeiden. Man hielt den Mund aus Angst, wie eben diese Mutter von Lina, die sich nie für ihre Tochter einsetzt, die alles unterschreibt und schlussendlich für den Gefängnisaufenthalt ihrer Tochter auch noch bezahlen muss – der finanzielle Ruin. Lina, die nichts kriminelles getan hat, nur mit ihrer grossen Liebe, einem Sohn aus guter Familie zusammensein wollte, mit ihm ausgerissen ist und den den aufdringlichen Sohn des Bürgermeisters abgewiesen hat, wird zum willkommenen Sündenbock, woran die Kleinbürger des Dorfes und des Gemeinderates ihren Frust und eigenen Defizite abreagieren können. Die wohlbetuchten Eltern von Linas Freund sind froh die nicht standesgemässe Freundin des Sohnes loswerden zu können und schicken den Sohn zum Studium nach Amerika.

Kleinkariertes Dorf- und Familienleben mit Rissen, mühsam zusammengehalten durch wirtschaftliche und falsche moralische Grundsätze, vergewaltigte die Seelen und vermurkste die Kinder mit dem Vorleben von falscher Familienidylle und gewaltsamen Erwartungen und Forderungen nach Anpassung.

Und Linas Sohn, erwachsen, mit eigener Tochter hat wiederum Beziehungsschwierigkeiten, weil er immer noch daran nagt, dass seine Mutter ihn weggegeben hat und nie gesucht hat. Wie konnte sie auch?  So zieht sich das Unglück weiter von Generation zu Generation…..

Und wenn wir uns heute wundern, dass es so schwierig ist, all die wunderbaren Erziehungsratschläge, die wir lesen, auch wirklich in die Tat umzusetzen, sodass unsere Kinder sich anders, frei und unbeschwert entwickeln können, dann sind es diese, unsere Prägungen, die sich – unbewusst oft – immer noch manifestieren wollen. Schliesslich wurde an diesen Verhaltensmustern und -codices über Jahrhunderte festgehalten, glaubte man, dass sie uns im sozialen Gefüge hilfreich seien.

Die Gesellschaft braucht jetzt andere und wohl das Einsehen, das Verstehen und den Willen der Wandlung von ein paar weiteren Generationen bis uns all die neuen Erkenntnisse, die Freiheit sein und das Leben der Kinder zur Blüte zu bringen, auch wirklich zur Verfügung stehen und uns ins Blut übergegangen sind.

Ein erster Schritt ist sicher, sich nicht mehr zu schämen und sich schuldig zu fühlen, sondern endlich mutig für sich einzustehen, auch wenn das ganz nahen Menschen nicht gefallen könnte.

Doch erst wenn wir es wagen für uns selber den eigenen Weg zu beanspruchen, werden wir ihn auch unseren Kindern gewähren können. Damit bahnen wir neue Wege.